Er wollte doch nur spielen
Von Peter Münder
Die biographischen Eckdaten sind bekannt: Die ältere Schwester schenkt dem sechsjährigen
Bobby ein Schachspiel und sofort wird Schach für den Jungen zum Lebensmittelpunkt.
Der Vater hatte sich zwei Jahre nach Bobby Fischers Geburt abgesetzt und ward
nicht mehr gesehen, während die dynamische, selbstbewusste Mutter Regina (geb.
Wender) als Krankenschwester und dann als Ärztin stark im Beruf gefordert war
und sich kaum um ihre Kinder kümmern konnte. Die Mutter förderte zwar Bobbys
Hobby, doch als er nur noch auf das königliche Spiel fixiert war und alle anderen
Lebensbereiche ausblendete, wollte Regina Fischer die Notbremse ziehen.
Bobby hatte egomanische Züge entwickelt, konnte keine Kritik ertragen und wollte
die Schule schmeißen: "Ich will nur noch Schach spielen", hatte der 14jährige
Bobby angekündigt - da sollte Reuben Fine, New Yorker Therapeut und international
anerkannter Schach-Experte, eingreifen.
Reuben Fine
GM Reuben Fine (1914-93), Psychoanalytiker und anerkannter Eröffnungstheoretiker,
Autor von "Die größten Schachpartien der Welt", gehörte zwischen 1936-51 zu
den acht besten Spielern der Welt. Er sollte das nicht mehr domestizierbare
Söhnchen wieder auf richtige Bahnen zu lenken und ihm bei einigen Partien auf
den Zahn fühlen. Doch als Fine während einer privat gespielten Partie Bobby
beiläufig fragte, warum er unbedingt die Erasmus Hall-Schule verlassen wollte,
schrie Bobby empört auf: "Ihr steckt alle unter einer Decke! Das ist eine Falle!"
und stürmte davon.
In seinem immer noch faszinierenden Buch "Die Psychologie des Schachspielers"
(zuerst 1956 veröffentlicht, nach der WM 1972 aktualisiert) beschreibt Fine
seine eigenen Erfahrungen mit Bobby und versucht, das Bobby-Enigma zu entschlüsseln.
Der Spezialist für Ödipus-Komplexe, Vatermord-Phantasien und Penis-Neid hatte
bei mehreren Treffen und einem halben Dutzend gespielten Partien (eine privat
gespielte hat Bobby als Nr. 44 in "Meine 60 denkwürdigsten Partien" aufgenommen)
Gelegenheit, das Schachwunderkind zu studieren.
Zwei Partien Fischer gegen Fine...
Seine Überlegungen kreisten damals schon um die Aspekte, die im Laufe der Jahre
immer wieder diskutiert wurden: Hatte Bobby erst am Brett pathologische Züge
entwickelt? Oder war es vielleicht so, dass ihn seine erratischen Eskapaden
als Weltmeister, die Verweigerung von Revanchematches mit längeren Perioden
ohne aktive Turniererfahrungen, zu sehr belasteten und zu grotesken Ausrastern
führten? War Bobby Fischer also das psychische Opfer einer viel zu langen Entzugsperiode
geworden - "Verrückt wegen des jahrelangen Verzichts auf harte Schachduelle",
wie es in einigen Nachrufen in englischen Blättern hieß? War Fischers früh entwickelte,
fast autistische Konzentration auf die 64 Felder also eher Größenwahn, Wunschdenken
oder die totale Hingabe an eine neu entdeckte, faszinierende Kunst?
Schon als 14jähriger Teenie, als er US-Meister wurde und dann mit 15 Jahren
der jüngste Großmeister der Schachgeschichte, war Fischer davon überzeugt, bald
den WM-Titel zu erobern: "Es gibt niemanden, den ich nicht schlagen könnte",
prahlte er und wurde deshalb von vielen Freunden und Gegnern belächelt. Als
er dann bei einigen Kandidatenturnieren doch herbe Niederlagen einstecken musste,
stand für ihn fest, dass sich die Russen mit Remis-Absprachen und Mauscheleien
gegenseitig Punkte zugeschanzt hatten und ihn so ins Leere laufen ließen. Alles
nur Einbildung? Ein klassischer Fall von Paranoia?
Fischer in jungen Jahren
Von wegen - auch Reuben Fine und viele andere Großmeister, darunter auch Helmut
Pfleger, haben diese Mauscheleien der Russen bestätigt. Sie nahmen sie allerdings
zähneknirschend in Kauf. Bobby war jedenfalls nicht gewillt, sich diese Machenschaften,
die damals ja auch von FIDE- Funktionären unterstützt wurden, zu tolerieren.
Schon lange vor der WM in Reyjkjavik 1972 hatte er gegen willkürliche, undurchsichtige
FIDE- Entscheidungen protestiert, war bei Kandidatenturnieren nicht zu angesetzten
Partien erschienen und hatte sich damit letztlich am meisten geschadet. In seinen
Betrachtungen über Bobby Fischer versucht Reuben Fine, ein Psychogramm dieses
"American Hero" zu liefern, der ja auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges als
exzentrischer Einzelkämpfer die geballte sowjetische Schachmacht, inklusive
KGB-Agenten und der bornierten Moskauer KP- Funktionärskaste wie bei einem Western-Showdown
vernichtend geschlagen hatte.
Die exzentrische Diva siegte wohl auch deswegen gegen die roten Teufel, die
sich als graue Funktionärsmäuse entlarvt hatten, weil die Russen tatsächlich
so agierten, wie Bobby es darstellte: "Für die sowjetischen Meister ist das
Schachspiel ein Beruf, dem sie von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags
nachgehen- mit dem Herzen sind sie nicht dabei". Fischers geradezu fundamentalistischer
Furor, mit dem er Organisatoren und Funktionäre verfolgte, wenn sie seinen Forderungen
nach anderen Lampen, Sesseln oder der Entfernung von TV-Kameras nicht nachkamen,
ist eben darauf zurückzuführen, dass er immer "mit dem Herzen beim Spiel" war
und alles für eine existentielle Bedrohung hielt, was ihn mit Irritationen und
Ablenkungen von dieser wichtigsten Sache der Welt abhalten wollte.
Dem Schach ergeben: Bobby Fischer
Aufschlussreich sind Reuben Fines differenzierte Beobachtungen über Fischers
Spieltechnik, die übrigens auch ein Licht auf den Therapeuten selbst werfen:
Denn Fine hielt sich neben Fischer (noch vor Reshevsky) für den besten amerikanischen
Schachspieler. Er stellte permanent Vergleiche mit Bobby an, hielt sich eigentlich
für genauso genial wie Bobby und kokettierte mit der kuriosen Konstellation,
dass von diesen beiden US- Schachkoryphäen, die in die Geschichte eingehen würden,
" einer der Therapeut des anderen" war.
Fine bemerkt in seinem Buch: "Besonders überraschend war bei Fischer stets die
Reife seines Spiels- schon als er fünfzehn war. Die Eröffnungen beherrschte
er vollkommen, im Mittelspiel war er ein erfahrener Taktiker und im Endspiel
war er scharf wie ein Rasiermesser. Er schien keine erkennbare Schwäche zu haben,
ausgenommen seine psychische Labilität - die allerdings hat ihn so manchen Punkt
gekostet, auch im Wettkampf gegen Spasski. Seine Einstellung zum Schach lässt
sich am besten mit der Laskers vergleichen, der das Leben als Kampf und das
Schachspiel als einen Aspekt dieses Kampfes ansah. Fischer hat gesagt: Ich würde
Schach mit Basketball vergleichen. Basketballspieler wechseln den Ball hin und
her, bis man einen Durchschlupf findet, dann schlägt man zu, mit allem, was
man hat".
Fine hatte aber auch schon früh erkannt, dass Fischers totale Fixierung aufs
Schach, der enorme Stellenwert eines Sieges für das eigene Selbstwertgefühl
eben auch extreme negative Auswirkungen bei Niederlagen haben kann. Als Fischer
beim zweiten Kandidatenturnier 1960 in Buenos Aires nur Dreizehnter wurde -
nachdem er sich beim ersten Interzonenturnier noch mit Spasski den ersten Platz
teilte- wagte sich Fischer für die nächsten zehn Jahre nicht mehr auf stark
besetzte Turniere im Ausland. Dazu Fine: " Für Bobby ist eine Niederlage auf
dem Brett mehr als eine verlorenes Spiel, sie bedeutet geradezu einen Zusammenbruch
seiner Lebensweise".
Sigmund Freud: Was hätte er zu Fischer gesagt?
Bemerkenswert sei auch Bobby naiver Umgang mit dem Tabuthema Aggressivität:
"Die meisten Menschen erklären, sie spielten zur Entspannung, aus Sportbegeisterung
oder aus Freude an Geselligkeit oder aus allen möglichen Gründen, bloß nicht
deshalb, weil es ihnen Vergnügen bereitet, den anderen zu schlagen. In dieser
Hinsicht hält Fischer in seiner fast kindlichen Offenheit nicht hinterm Berge.
So weit man zurückdenken kann, hat er stets öffentlich verkündet, er sei der
beste Spieler der Welt und sogar der beste Spieler aller Zeiten, er könnte jeden
schlagen. Bobby verheimlicht den in seinen Siegen mitschwingenden Sadismus keineswegs.
"Ich sehe gern, wie sie sich winden", hat er in jüngeren Jahren einmal gesagt.
Und als er mehr Schliff gewonnen hatte, sagte er: "Ich zerbreche das Ich des
anderen". Fischer ist tatsächlich überzeugt, dass er mit seinen Schacherfolgen
all die Feinde vernichtet, die ihm bei seinem Aufstieg das Leben schwer gemacht
haben".
Mit geradezu prophetischer Weitsicht sagte Reuben Fine auch voraus, dass Fischer
nach dem Sieg der WM in Reykjavik seinen Titel aus Angst vor einer Niederlage
nicht verteidigen würde. Ein Herausforderer, der nach einem Sieg gegen den Titelinhaber
selbst Weltmeister wird, meinte Reuben Fine, verhalte sich meistens so wie ein
Vater, der sich in seiner Familie seinen Patriarchen-Platz nicht streitig machen
lasse und jede Herausforderung ablehne.
Vor dem Hintergrund dieser Biographie eines Einzelgängers, der sich meistens
bevormundet, gegängelt, bespitzelt und hintergangen fühlte, müssen wohl auch
Bobbys aberwitzige Ausraster eingeordnet werden. Er wollte tatsächlich nur spielen,
er sah natürlich auch das Match gegen Spasski 1992 in Belgrad und Sveti Stefan
(Montenegro) mit dem enormen Preisgeld von fünf Millionen Dollar als Möglichkeit
für ein Comeback - trotz der geballten internationalen Medienpräsenz, die ihn
zwar wieder ins Rampenlicht brachte, die er aber zutiefst verabscheute.
Fischer-Spassky Revanchematch in Sveti Stefan 1992
Als die US-Regierung den Handelsboykott gegen Jugoslawien verhängt hatte und
Bobbys Match als kriminellen Akt verfolgte, brannten bei Bobby verständlicherweise
alle Sicherungen durch. Er spuckte auf das offizielle Schreiben des US-Justizministers
und verhöhnte die amerikanischen Behörden, die sein unbotmäßiges Verhalten nicht
vergaßen und ihn als Steuerflüchtling rund um den Globus jagten.
Fischers unsäglicher Haß auf US-Bürokraten stammt aus dieser Zeit, als er nach
dem Sieg gegen Spasski in Ungarn und auf den Philippinen untergetaucht war.
In seiner maßlosen Wut hatte er sich nach den Terrorattacken vom 11. September
zu wüsten anti-amerikanischen Hasstiraden und begeisterter Zustimmung für diese
Attacken hinreißen lassen. Bis zuletzt, als er wegen eines angeblich ungültigen
US-Passes in Tokio inhaftiert war und schließlich mit einem isländischem Paß
nach Reykjavik ausreisen konnte, fühlte sich Bobby Fischer von amerikanischen
Behörden getäuscht und ausgetrickst.
Die Isländer empfingen Bobby Fischer jedoch mit offenen Armen - sie hatten nicht
nur honoriert, dass ihre kleine Insel nach dem WM-Kampf von 1972 plötzlich auf
dem großen internationalen Parkett bekannt geworden war. Die meisten Isländer
hatten wohl auch erkannt, dass Bobby tatsächlich nur Schach spielen wollte.
Saemunder Palsson (Spitzname "Saemi Rock"), ein Polizist, der beim WM-Turnier
1972 für Bobby Fischer Wächter und Faktotum spielte, war jedenfalls begeistert,
als es im Sommer 2004 mit der isländischen Einbürgerung des amerikanischen Schachgenies
klappte. Damals während des WM-Thrillers hatte er für Bobby mitten in der Nacht
Hamburger und Pizza besorgt, sich um seine Garderobe gekümmert oder obskure
Fluchtwege ausbaldowert, um die aufdringlichen Journalistenpulks abzuhängen.
"Das waren tolle Zeiten", erinnerte sich Palsson. "Ich habe Bobby zwar gelegentlich
launisch oder unberechenbar erlebt, aber wenn er ein Brett hatte und Schach
spielen konnte, war er der friedlichste, gutmütigste Mensch der Welt".
Fischer und sein Ex-Bodyguard Saemunder Palsson