Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Warum für Marco Thinius aus Weimar die Musik und der (Schach-) Sport
zusammengehören:
„MOZART IST DER GARRI KASPAROW DER MUSIK“
„Schach und Musik“, das ist das Leitmotiv einer aktuellen Ausstellung in der
Emanuel Lasker-Gesellschaft Berlin. Das Thema wird in der Person von MARCO
THINIUS (38) auf den Punkt gebracht: Der 38-jährige trägt den Titel eines
Internationalen Meisters (IM) und weist ein Rating von aktuell ELO 2370 auf;
gleichzeitig gehört er als Solofagottist der Staatskapelle Weimar an. Mit dem
erklärten Mozartliebhaber sprach DR. RENÉ GRALLA.
DR. RENÉ GRALLA: Musik ist sinnlich, Schach ist kühl und mathematisch. Herr
Thinius, Sie brillieren sowohl im Schach als auch in der Musik: Wie geht das
zusammen?
MARCO THINIUS: Der Gegensatz, den Ihre Frage unterstellt, besteht in Wahrheit
doch gar nicht. Schach weist künstlerische Elemente auf; gleichzeitig findet die
sportliche Seite, die beim Turnierschach im Vordergrund steht, ihre Entsprechung
in der Musik.
DR. R.GRALLA: Musik ist - auch - Sport?!
THINIUS: Musik ist kein Sport im engeren Sinn, wird aber geprägt vom
Wettkampfgedanken; schließlich messen sich Instrumentalisten regelmäßig in
Wettbewerben. Denken Sie außerdem an den allgemeinen Wettbewerb um freie
Orchesterstellen, der extrem hart ist. Wird eine freie Stelle ausgeschrieben,
bewerben sich je nach Instrument zwischen 50 und 200 Leute.
DR. R.GRALLA: Und die Auslese ist mindestens so gnadenlos wie bei einem
Schachturnier?
THINIUS: Die konkreten zeitlichen Abläufe mögen sich unterscheiden. Im Ergebnis
verlangt aber die Beschäftigung mit der Musik einerseits und das Schachtraining
andererseits extrem viel Zeit und Energie.
DR. R.GRALLA: Zumal Ihr Orchesterpart als Solofagottist allein schon deswegen
Sport ist, weil Sie dafür reichlich Puste benötigen.
THINIUS: Da wird Musik tatsächlich zu einer körperlichen Angelegenheit.
DR. R.GRALLA: Ein Musiker muss ständig an sich arbeiten, das Gleiche gilt für
einen Schachspieler. Wie können Sie persönlich das koordinieren?
THINIUS: Tatsache ist: Musik und Schach nehmen einen großen Teil meiner Zeit in
Anspruch. Für andere Dinge bleibt wenig Raum.
DR. R.GRALLA: Wie viele Stunden am Tag reservieren Sie für Schach?
THINIUS: Acht Stunden am Stück vor dem Brett oder dem Computer, die sind
natürlich unvorstellbar. Was Schach angeht, da muss ich ein wenig von der Hand
in den Mund leben. Im Grunde bin ich deswegen eher ein Freizeitspieler, obwohl
ich dennoch ein recht gutes Niveau erreicht habe …
DR. R.GRALLA: … immerhin haben Sie den IM geschafft …
THINIUS: … momentan kann ich durchschnittlich zwei Stunden am Tag für Schach
freischlagen.
Fagott und Schach: Marco Thinius
DR. R.GRALLA: Treten Sie in Punktspielen für einen Verein an?
THINIUS: Ja, in der Bundesligamannschaft der Schachfreunde Berlin.
DR. R.GRALLA: Saisonstart ist im Oktober. Ihr Ziel in der Meisterschaftsrunde
2006/2007?
THINIUS: Der Klassenerhalt. Denn wir sind realistisch und wissen, dass uns ein
harter Kampf gegen den Abstieg bevorsteht.
DR. R.GRALLA: Nun zur von Ihnen eingangs erwähnten künstlerischen Seite des
Schachsports.
THINIUS: Ich verweise auf einen Satz von Siegbert Tarrasch, der zum Spiel das
Standardwerk schlechthin verfasst hat: Schach habe wie Liebe und Musik die
Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen.
DR. R.GRALLA: Manche Spitzenkräfte im Schach waren und sind berühmte Musiker.
Mark Taimanow, WM-Kandidat im Jahr 1971, verzauberte die Fans am Klavier …
THINIUS: … die Liste lässt sich fortsetzen, ich nenne den ehemaligen Weltmeister
Wassili Smyslow, einen Opernsänger. Allerdings sind das Ausnahmetalente;
eigentlich ist es nämlich fast undenkbar, Schach und Musik gleichzeitig auf
höchstem Niveau zu pflegen.
DR. R.GRALLA: Immerhin kennt die Schachgeschichte eine Doppelbegabung wie
Philidor. Der Franzose komponierte Opern und galt von 1747 bis 1795 als
inoffizieller Weltmeister.
THINIUS: Das ist aber auch nur möglich gewesen unter den Bedingungen des 18.
Jahrhunderts. Damals war Philidor überhaupt der Erste, der die Strategie im
Schach systematisch und wissenschaftlich untersucht hat; vor Philidor agierten
die Kontrahenten während einer Partie eher aus dem Bauch heraus. Interessant ist
übrigens, dass Philidor von den Zeitgenossen vor allem als Komponist
wahrgenommen wurde. Heute werden Philidors Opern selten aufgeführt; wir kennen
den Meister in erster Linie als Schachtheoretiker.
DR. R.GRALLA: Philidor feierte seine Triumphe am Brett im legendären Pariser
„Café de la Régence“. Die stolze Tradition soll vielleicht ein Revival erleben:
Könnten Sie sich ein Konzert im „Café de la Régence“ vorstellen, als Hommage an
Philidor?
THINIUS: Ein reizvoller Gedanke, obwohl ich ja eigentlich kein Kaffeehausmusiker
bin.
DR. R.GRALLA: Nicht nur Klassikkünstler spielen Schach, sondern auch Popstars:
der US-Rapper Will Smith und der deutsche HipHopper Smudo, der Ex-Beatle Ringo
Starr, Sting oder die Finnen-Rocker von HIM. Können Sie uns das erklären?
Smudo beim Schach mit Leonie Helm
THINIUS: Im Schach und in der Musik sind Sie schöpferisch tätig, die innere
Verwandtschaft ist unbestreitbar. Und ob Sie sich nun als Musiker den Klassikern
oder Pop, Rock oder HipHop widmen, das spielt keine Rolle.
Schachfan Will Smith (re.)
DR. R.GRALLA: Ihr Lieblingskomponist ist Mozart. Warum?
THINIUS: Mozart zählt zu den außergewöhnlichen und geradezu göttlichen
Persönlichkeiten, die man einfach lieben muss. Er ist so herausragend wie Garri
Kasparow im Schach.
DR. R.GRALLA: Die Emanuel Lasker-Gesellschaft Berlin zeigt momentan die
Ausstellung „Schach und Musik“. Haben Sie die Schau besucht?
THINIUS: Bisher leider nicht. Ich hoffe aber, dass ich dafür noch eine
Gelegenheit finde.
Thinius gegen Naiditsch (DEM 2004)...
Gerne mal ein Satz heiße Ohren für seine Gegner: Marco Thinius (li.) bei der
Brett-Arbeit
Während der Fagottmeister Thinius in Höckendorf 2004 einem ehrgeizigen Naiditsch
– der von Lobeshymnen begleitet wird, er habe das Zeug zum World Champ – die (Groß-)Flötentöne
derart heftig beibringt, dass dem potenziellen WM-Kandidaten die Ohren geklungen
haben dürften, intoniert Musikerkollege André Danican Philidor (1726 – 1995) 214
Jahre zuvor einen derben Bauernmarsch für einen Briten namens Sheldon.
Opernkomponist und inoffizieller Schachweltmeister von 1747 bis 1795: André
Danican Philidor
Der hauptberufliche Opernkomponist Philidor, unter anderem befreundet mit dem
Philosophen und Aufklärer Diderot, hatte 1747 in London den Syrer Philipp Stamma
beinahe deklassiert (acht Siege, eine Niederlage, ein Unentschieden) und galt
seitdem als inoffizieller Weltmeister. Den Anspruch, die internationale Nr. 1 zu
sein, festigte Philidor 1755 mit einem Matchsieg gegen seinen einstigen Lehrer
Kermur Sire de Légal. Ein psychologisch wichtiger Erfolg, schließlich hatte sich
der Sire de Légal seinerseits fünf Jahre zuvor mit einer unglaublichen
Kurzpartie gegen den Chevalier de St. Brie für alle Zeiten in die Ruhmeshalle
des Schachs eingeschrieben – als nämlich der Sire de Légal (Weiß) den Chevalier
de St. Brie (Schwarz) mit einem nicht ganz korrekten Damenopfer bluffte und
daraufhin das nach ihm benannte „Matt des Légal“ auf das Brett zauberte:
1.e4 e5 2.Lc4 d6 3.Sf3 Sc6 Sc3 Lg4 5.Sxe5 ??!!?? Lxd1??? 6.Lxf7+ Ke7 7.Sd5# 1:0
(spätere Autoren haben die weiße Spielführung nachträglich geschönt, um das Matt
relativ zwingend werden zu lassen – was jedoch an der psycho-taktischen Brillanz
des Originals nichts ändert).
Anders als das „Matt des Légal“ sind sowohl die Aufzeichnungen der Duelle
A.D.Philidor vs. Ph.Stamma (London 1747) und A.D.Philidor vs. De Légal (Paris
1755) verlorengegangen. Überliefert ist unter anderem aber eine Orgie von
Paukenschlägen, die einem in London 1790 gegen Philidor zugegeben recht flau
operierenden Mr. Sheldon eine vorbildliche Dröhnung verpasst haben, und dies
sogar beim Blindspiel:
Sheldon gegen Philidor...
Dr. René Gralla, Hamburg
---------------------------------------------------
„Schach und Musik“: Ausstellung in der Berliner Emanuel Lasker-Gesellschaft noch
bis zum 30.09.2006; Leuschnerdamm 31, 10999 Berlin; Besuch nach telefonischer
Anmeldung unter 030 / 616 84 130;
Marco Thinius live: Oper „Hochzeit des Figaro“, Deutsches Nationaltheater
Weimar, Sonntag, 10.09.2006, Beginn 19 Uhr; Theaterkasse: 03643 / 755 – 334