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1945: Die kalmückischen Kamele
Von Gerald Schendel
1. Das Abkommen von Jalta
Gegen Ende des zweiten Weltkrieges zogen mehrere
Kosakenverbände, die an der Seite der deutschen Wehrmacht gekämpft hatten, in
das von Briten besetzte Gebiet von Oberkärnten und Osttirol. Darunter befand
sich auch das von Helmuth von Pannwitz kommandierte XV.
Kosaken-Kavallerie-Korps, zu dem ein kalmückisches Kavallerieregiment gehörte,
das in die 3. Plastun-Brigade des Oberst (zuletzt Generalmajor) Iwan Kononow
eingegliedert worden war.
Für das Schicksal dieser Menschen wurde ein Abkommen bestimmend, das während
der Konferenz von Jalta (4.-11. Februar 1945) auf der Krim unterzeichnet worden
war. In dem von Stalin, Roosevelt und Churchill unterzeichneten Protokoll der
Arbeit der Krimkonferenz hieß es hierzu:
"Auf der Krimkonferenz fanden zwischen der britischen, der amerikanischen und der sowjetischen Delegation Verhandlungen mit dem Ziel statt, ein umfassendes Abkommen über Maßnahmen für den Schutz, den Unterhalt und die Repatriierung von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika zu schließen, welche durch die jetzt in Deutschland einziehenden alliierten Streitkräfte befreit wurden. Die Texte der am 11. Februar unterzeichneten Abkommen zwischen der UdSSR und Großbritannien und zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten von Amerika sind identisch. Das Abkommen zwischen der Sowjetunion und Großbritannien wurde von W. M. Molotow und Herrn Eden unterzeichnet. Das Abkommen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika haben Generalleutnant Gryslow und General Dean unterzeichnet.
(...) Da jetzt eine Vereinbarung erzielt worden ist, verpflichten sich die drei Regierungen, jeden Beistand zu leisten, welcher mit den Erfordernissen der Durchführung von militärischen Operationen vereinbar ist, um dazu beizutragen, dass alle diese Kriegsgefangenen und Zivilpersonen schnell repatriiert werden."
Quelle: Teheran - Jalta - Potsdam. Dokumentensammlung, herausgegeben von Sch. P. Sanakojew und B. L. Zybulewski, Deutsche Übersetzung Verlag Progreß Moskau 1978, Röderberg-Verlag Frankfurt/M., S. 212 f.
Ein entsprechendes sowjetisch-französisches
Abkommen wurde am 27. Juni 1945 unterzeichnet. Vorgesehen war eine
Repatriierung "nötigenfalls unter Zwang" (vergl. Wolfgang Jacobmeyer, Vom
Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in
Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, S. 82).
Es gab auf dem von alliierten Streitkräften befreiten Territorium mehrere
Gruppen von Menschen, die sich nicht repatriieren lassen wollten: Polen,
Balten, Ukrainer... Betroffen waren u.a. bekannte Schachspieler wie der
Ukrainer F. P. Bohatirchuk (oder Bogatyrtschuk; er war 1927 UdSSR-Champion,
versteckte sich nach dem Krieg zunächst in Bayern und wanderte später nach
Kanada aus) oder der Lette
E. Zemgalis,
der von Deutschland aus in die USA auswanderte (während der ersten Jahre seines
Aufenthalts in Deutschland musste er die französische Besatzungszone
meiden,weil die Franzosen im Gegensatz zu Briten und Amerikanern bis Juli 1947
auch Balten gewaltsam repatriierten [vergl. Tommie Sjöberg, The Powers and
the Persecuted. The Refugee Problem and the Intergovernmental Committee on
Refugees (IGCR), 1938-1947, Lund University Press 1991, S. 174).
Die Kosakenverbände in der Gegend um Lienz hatten sich der britischen
Besatzungsmacht in der Erwartung ergeben, sie würden entweder in eine der
britischen Kolonien gebracht oder demnächst in einem Krieg der Westmächte gegen
die Sowjetunion eingesetzt werden. Den Briten wiederum war klar, dass die
Repatriierung der Kosaken gemäß der Vereinbarung von Jalta für diese bedeutete,
sie zu "Sklaverei, Folter und möglicherweise zum Tod zu verdammen"
(Tagebuch-Eintrag von Harold Macmillan), doch am 27. Mai 1945 erhielten die
britischen Verbände im Raum Osttirol und Oberkärnten unter strengster
Geheimhaltung die Order, die Repatriierung durchzuführen.
Die Aktion begann am 28. Mai: über 1.500 Offiziere aus mehreren Lagern
(darunter Alt-Emigranten, die nie Sowjetbürger gewesen waren, und deutsches
Rahmenpersonal) wurden zu einer erfundenen Konferenz in Spittal/Drau gelockt.
Dort wurden sie festgenommen und zur Demarkationslinie im steirischen Judenburg
transportiert, wo sie den jenseits der Murbrücke wartenden Sowjets übergeben
wurden. Danach ging man gegen die führungslos gewordenen Kosaken vor. In einem
Lager wurde am Morgen des 1. Juni passiver Widerstand geleistet (darauf bezieht
sich ein Gemälde von S. G. Korolkoff), die weiteren Transporte gingen ohne
Widerstand vor sich. Bis Mitte Juni wurden über 22.500 Kosaken und Kaukasier
(und Reste des Kalmückenverbandes) aus dem Drautal an die Sowjets ausgeliefert.
Von denjenigen, die vor Festnahme und Auslieferung geflüchtet waren, griffen
die Briten im Zeitraum vom 7. bis 30. Juni 1.356 Personen auf und lieferten sie
aus. Nur wenigen gelang die Flucht.
James Bond (dargestellt von Pierce Brosnan)
kommentierte
die Auslieferung der Kosaken an die Sowjetunion in dem Film Goldeneye
(1995) mit den Worten: "Not exactly our finest hour."
"Verrat an den Kosaken bei Lienz"; Gemälde von S. G. Korolkoff (1957)
2. Zur Ausstellung in Lienz
Ausgangspunkt der von dem Archäologen a.o.
Univ.-Prof. Dr. Harald Stadler im Jahre 2002 in Lienz initiierten Ausstellung
war nicht eine zeitgeschichtliche, sondern eine archäologische Fragestellung:
"Was und wieviel bleibt von 25.000 Personen, die sich einen Monat lang in
einer Region aufhalten, zurück? Wieviel wird wie lange weiterverwendet,
umgenutzt oder kommt in den Boden?" Aus diesem Ansatz entwickelte sich
ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, an dem sich der Ethnologe Mag. phil.
Karl C. Berger beteiligte. Im
Buch zur Ausstellung
(H. Stadler / M. Kofler / K. C. Berger, Flucht in die Hoffnungslosigkeit.
Die Kosaken in Osttirol, Studienverlag 2005) erläutert der Historiker Dr.
Martin Kofler den zeitgeschichtlichen Hintergrund.
Obwohl die Geschehnisse bereits 60 Jahre zurückliegen, rufen sie heute noch bei
allen Beteiligten große Emotionen hervor. In England ist noch vor wenigen
Jahren der britische Historiker Nikolai Tolstoy wegen seiner Darstellung des
Geschehens (Die Verratenen von Jalta) in ein Gerichtsverfahren
verwickelt worden, über das er sich in einem Interview im April 2002 mit
pravda.ru
geäußert hat. Bei der Vorbereitung der Ausstellung in Lienz ist die politische
und militärische Geschichte bewusst nicht in den Vordergrund gestellt
worden. Es ging vielmehr darum, den Alltag der Kosaken in den Lagern
nachzuzeichnen.
Von geschätzten 2,5 Millionen Objekten sind ca. 200 obertägig im Gebiet
verblieben. Aus finanziellen Gründen sind aber bei weitem nicht alle
"Fundhoffnungsgebiete" schon erschlossen worden. Daher markiert die jetzige
Ausstellung in Lienz nur einen Zwischenstand der Forschung. In den nächsten
Jahren sollen z.B. zwei große Gruben sondiert werden, in denen die Reste der
zurückgelassenen Habseligkeiten auf Befehl der britischen Besatzungsmacht
verbrannt wurden und unter die Erde gekommen sind. Ob man dort Reste von
Schachspielen finden wird?
In der Lienzer Ausstellung wird belegt, dass die Kosaken gelegentlich gespielt
haben. In dem vom 22. Juni 1941 bis 2. Januar 1945 geführten Tagebuch des
Don-Kosaken Iwan Nikolajewitsch Tscherenkow ist das Kartenspiel mehrmals
erwähnt. Einheimische hatten dieses Tagebuch in ihrem Haus auf dem Dachboden
entdeckt und stellten es jetzt den Ausstellungsgestaltern zur Verfügung. Es
bildet quasi den "roten Faden" der Ausstellung.
Militärhistorikern ist bekannt, dass die deutsche Wehrmacht dem 1945 bei Lienz
gestrandeten Kalmücken-Verband im April 1943 die Lieferung von
Musikinstrumenten, Spielen und ähnlichem "Betreuungsmaterial" zugesichert hat
(Joachim Hoffmann, Deutsche und Kalmyken 1942 bis 1945, Einzelschriften
zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges Bd. 14, herausgegeben vom
Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 4., unveränderte Auflage [1. Aufl. 1973],
Freiburg i. Br. 1986, S. 117). Dieses Material muss irgendwo geblieben sein,
und es ist zu vermuten, dass sich darunter Schachspiele befunden haben.
Peter Simon Pallas (1741-1811) war ein deutscher Forschungsreisender, den die
russische Zarin Katharina II. 1768 beauftragt hatte, die Situation in wenig
bekannten Teilen des russischen Reiches zu erkunden. 1769 bereiste Pallas
erstmals die Kalmückensteppe und erstellte eine gründliche völkerkundliche
Monografie. Seine Schriften wurden weithin bekannt, von vielen erschienen
Übersetzungen. Der Schachhistoriker Antonius van der Linde zitierte in
Geschichte und Literatur des Schachspiels, Berlin 1874 (Bd. I, S. 63) aus
Pallas, Sammlung historischer Nachrichten über die mongolischen
Völkerschaften (St. Petersburg 1776, Bd. I, S. 157) zum Schachspiel der
Kalmücken. 1778 erschien in der Zeitschrift Der Teutsche Merkur (1.
Vierteljahr, S. 249-278) ein Auszug aus der Pallas-Publikation von 1776. Darin
ist auf Seite 272 zu lesen, dass die erwachsenen kalmückischen Männer in ihrer
Freizeit gerne Karten und Schach spielten.
Wenn die traditionsbewußten Kalmücken im 18. Jahrhundert gerne Schach spielten,
so ist zu vermuten, dass sich daran im 20. Jahrhundert, in dem Schach von der
Sowjetunion staatlich gefördert wurde, nicht viel geändert hat. Kirsan
Nikolajewitsch Iljumschinow, der, 1962 im Jahr des Tigers geboren, 1993
Präsident der russischen Republik Kalmückien und 1995 Präsident des
Weltschachbundes FIDE wurde, erlernte zuerst das Dame- und dann das Schachspiel
von seinem Großvater (vergl. Iljumschinows
Autobiografie S. 5). Die Generation von
Iljumschinows Großvater - das ist die Gruppe von Menschen, welche die Zeit des
zweiten Weltkrieges bewußt miterlebt und durchlitten hat.
Bemerkenswert ist übrigens, dass Iljumschinow an dieser Stelle seiner
Autobiografie nicht die Schachförderung in der UdSSR erwähnt, sondern eine
buddhistische Legende, wonach das Schachspiel von den Göttern erfunden wurde.
Zwei Himmelsbewohner kamen einst auf die Erde herab und begannen auf der weiten
Steppe Schach zu spielen. Ein junger Schafhirte kam hinzu und verfolgte die
Partie. Als die Partie beendet war, verschwanden die Götter. Der Hirte blickte
um sich und sah, dass seine Kleidung zerfallen, seine Peitsche zerbröckelt und
er selbst ein altersschwacher Greis geworden war. Eine Horrorvision für
jemanden, der in der christlichen Tradition aufgewachsen ist - welch eine
Verschwendung der knapp bemessenen Lebenszeit. Aus der buddhistischen
Perspektive der Wiedergeburt erhält diese Legende einen ganz anderen Sinn.
Es kann sein, dass sich in irgendeinem Haus in der Gegend um Lienz, vielleicht
auf dem Dachboden, in der guten Stube oder im Keller noch ein Schachspiel von
den Kosaken oder Kalmücken befindet. Die aus dem südlichen Russland stammenden
Menschen, die Anfang Mai 1945 in der Gegend eintrafen (die Briten - z.B. die
schottischen 8. Argyll and Sutherland Highlanders - zogen am 8. Mai 1945 in
Lienz ein), kamen nicht als Eroberer. Sie benötigten vor allem Lebensmittel,
zahlten mit Reichsmark oder italienischen Lire und tauschten. Als Tauschobjekte
sind dokumentiert z.B. Pferde, Schreibmaschinen (!) oder Tee, Teppiche,
Schmuck, Kleidung...
Prof. Dr. Harald Stadler: "Sachguterwerb durch Perlustrierung ist auch
durch britische Armeeangehörige (Uhren, Schmuck, Fotoapparate) belegt. Von
sowjetischen Soldaten wird überliefert, dass sie bei der Auslieferung in
Judenburg besonders auf edelsteinbesetzte Kosakensäbel aus waren. Und so
dürften in manch schottischen und russischen Haushalten einige
Erinnerungsstücke aus dieser düsteren Zeit einen Ehrenplatz erhalten haben."
(Stadler/Kofler/Berger, a.a.O. S. 43)
Nicht archäologisch erschlossen ist bisher ein nördlich des Flusses Drau bei
Lienz lokalisierter Pferde-Friedhof. Tausende von Pferden, die mit den Kosaken
in die Gegend um Lienz kamen, sind charakteristisch für viele Erinnerungen von
Zeitzeugen: einheimische Kinder übten sich im Reiten, die Bauern fürchteten um
ihre Existenz, da die Tiere ihre Felder und Wiesen abgrasten. Diese Pferde
wurden nicht "repatriiert". Ein Teil wurde als Kriegsbeute nach England
gebracht, ein Teil wurde den einheimischen Bauern zur Nutzung überlassen, die
übrigen Pferde wurden geschlachtet oder erschossen - "Pferdefleisch war
nicht hoch im Kurs", berichtete ein Zeitzeuge.
Der Erinnerungswert von fast 5.000 Pferden war für die einheimischen
Österreicher höher als derjenige der 12 Kamele, die als "exotisches Element"
hätten auffallen sollen, aber nur den wenigsten Personen in Erinnerung
geblieben sind (Karl C. Berger in Stadler/Kofler/Berger, a.a.O. S. 35). Diese
Tiere sind eingegangen oder erschossen worden. Seinerzeit wurde ein spezieller
Kamel-Friedhof angelegt, der jedoch nach Auskunft von Prof. Dr. Stadler
ebenfalls noch nicht archäologisch erschlossen wurde.
Zur Halbzeit der Ausstellung konnte Mitte Juni eine erfreuliche
Zwischenbilanz
gezogen werden: Atamane und Erzbischöfe, Australier, Amerikaner und Russen
haben sich im Gästebuch der Kosakenausstellung eingetragen. Neue Zeitzeugen
haben sich gemeldet, die archäologischen Grabungen konnten fortgesetzt werden.
3. Kalmücken, Kosaken und Kamele
Dschingis Khan (+ 1227) hinterließ seinem
ältesten Sohn Dschutschi und dessen Erben Batu alle mongolischen Gebiete in
Westsibirien und riesige Flächen an der Wolga und in Nordkaukasien. Batu machte
sich daran, Russland, Polen, Ungarn und die dahinter liegenden Länder Europas
zu erobern. Am 9. April 1241 wurde ein polnisch-deutsches Ritterheer bei
Liegnitz vernichtet und drei Tage später unterlagen die Ungarn an der Theiß.
Der Weg in das westliche Abendland war frei. Plötzlich aber zogen die Mongolen
nach Osten ab - Batu kehrte zur Wahl eines neuen Groß-Khans in die Heimat
zurück.
Ein überraschender Abzug nach Osten ereignete sich erneut ein halbes
Jahrtausend später. Um in die ursprüngliche Heimat im Osten zurückzukehren,
verließ ein großer Teil der Kalmücken im Dezember 1770 das russische Gebiet an
der Wolga, in das der mongolische Volksstamm Ende des 16., Anfang des 17.
Jahrhunderts gezogen war. Die Fortwanderung der Kalmücken war Gesprächsstoff in
Europa - man begann, sich mit diesem seltsamen Volk zu beschäftigen. So
erschien 1774, ein Jahr nach dem von den Jaik-(Ural)-Kosaken unterstützten
Pugatschow-Aufstand 1773, in der Zeitschrift Der Teutsche Merkur (6.
Bd., S. 183-195) eine anonyme Rezension zu einem Auszug von Pallas,
Merkwürdigkeiten der Morduanen, Kosaken, Kalmücken, Kirgisen, Baschkiren,
Frankfurt/Leipzig 1773.
Den Rezensenten des Teutschen Merkurs erinnerte die Rückwanderung der
Kalmücken an das "Schauspiel jener plötzlichen und unvermuteten Wanderungen,
wovon die Goten uns in der ältern Geschichte Beispiele liefern". In Europa habe
man über diesen Vorfall verschieden geurteilt. Sowohl in Russland wie auch in
China habe man befürchtet, dass sich die wandernden Kalmücken (ca.
33.000 Haushalte oder 170.000 Personen)
mit Rebellen vereinigen könnten, um gegen Moskau oder Peking zu marschieren. In
einer Anmerkung (a.a.O. S. 184) fügte der Rezensent ein Beispiel historischer
Zensur hinzu: "In der zwooten Ausgabe der Werke des Hrn. Rath Müllers,
hat der Petersburger Hof alles ausstreichen lassen, was diese Fortwanderung der
Kallmucken, wovon in Pallas Reisen, der sie lange vor ihrem Abzuge sah, die
Rede ist, angeht." Gemeint ist der in Herford (Westfalen) 1705 geborene
russische Staatsrat, Forschungsreisende und Historiker Gerhard Friedrich Müller
(1705-1783).
Zu dem Verlauf der Wanderung bemerkte der Rezensent, dass die Kalmückenschaar
mit solcher Geschwindigkeit das Gouvernement Orenburg durchwanderte, "dass die
russischen Truppen, welche man abschickte, sie bei dem Übergange über die
Flüsse aufzuhalten, sie nur zu erreichen nicht einmal im Stande waren" (S.
190). Unbehelligt blieb der Kalmückenzug jedoch nicht:
nur etwa 70.000 Personen
erreichten im August 1771 das Ziel ihrer Reise in China, wo sie
von Kaiser Qian Long empfangen
wurden.
Es sei ein Glück, so meinte der Rezensent im Teutschen Merkur, dass Herr
Pallas "noch eben zeitig genug" im russischen Süden angelangt sei, um Völker zu
erkunden, welche sich jetzt "so tief in das Innerste von Asien gezogen haben,
dass man sie so gut als verschwunden nennen kann."
Historische Karte aus Meyers Konversationslexikon 1888/89
Verschwunden? Das Jahr 1771 markierte eine Zäsur (vergl. Michael Khodarkovsky,
Where two worlds met : the Russian state and the Kalmyk Nomads ; 1600 - 1771,
Cornell University Press 1992), doch die Geschichte der Kalmücken in Russland
setzte sich fort. Die Mehrheit der Kalmücken hatte 1771 den Süden Russlands
verlassen, aber
etwa ein Viertel des ursprünglichen
Bevölkerungsbestandes von 1770 war geblieben.
Laut J. Hoffmann (a.a.O. S. 32) blieben 50.000 Menschen mit 13.000 Kibitkas
(Jurtenzelten) zurück. Der politisch-rechtliche Status änderte sich: Das
relativ selbständige Kalmücken-Khanat wurde aufgelöst, die zurückgebliebenen
Kalmücken waren nicht mehr Alliierte, die seit 1608/09 dem russischen Zaren
durch einen Bündnis-Eid verpflichtet waren, sondern
russische
Untertanen in der Kalmückensteppe.
Seit 1609 kennt man kalmückische Kosaken. 1613 schlossen sich zwei kalmückische
Regimenter militärischen Einheiten der Don-Kosaken an. Die seit dem 17.
Jahrhundert bezeugte
Verbindung von Kalmücken zu Kosaken
intensivierte sich nach 1771: Kalmücken schlossen sich an Ural-, Orenburg-,
Terek-, Don- und Kuban-Kosaken an. Im Krieg gegen Napoleon kämpften 3
kalmückische Regimenter: das 1. und 2. kalmückische Regiment sowie das 1737
gegründete kalmückische Stawropol-Kosaken-Regiment.
Aus kalmückischer Sicht ist dieser Sachverhalt insofern von Bdeutung, als heute
hinter der Verwendung des Terminus "Kosaken" die Beteiligung des kleinen Volkes
der Kalmücken zu verschwinden droht. Stolz betonte daher Kirsan Iljumschinow in
seiner
Autobiografie
(S. 12): "Die kalmückischen Regimenter waren die ersten, die [Ende März
1814] in Paris einmarschierten und den Parisern zum ersten Mal die
Gelegenheit boten, Soldaten auf dem Rücken von Kamelen zu sehen." In
Geschichtsbüchern wird heute, wenn überhaupt, nur der Name des
Kavallerie-Generals Graf M. I. Platow (1751-1818) als
Kommandeur der gegen Napoleon siegreichen
Kosaken-Truppen genannt - die
kalmückischen Truppeneinheiten werden nicht gesondert erwähnt.
Kamele waren für Kalmücken etwas Besonderes. Der deutsche Forschungsreisende P.
S. Pallas hatte im 18. Jahrhundert berichtet, dass die nomadisierenden
Kalmücken von der Viehzucht lebten, wobei sie vor allem Pferde, Rindvieh und
Schafe hielten. Ziegen hatten sie nur wenige. Kamele seien "nur ein
Eigenthum der Reichen und der Geistlichkeit", weil die Tiere wegen ihrer
"Zärtlichkeit" (gemeint ist die Anfälligkeit für Krankheiten) und wegen ihres
langsamen Wuchses nicht so sehr vermehrt werden konnten. Die Steppe sei wegen
der häufigen Salzblumenplätze und salzhaften Gewächse eine vortreffliche Weide
für Kamele.
Nina G. Otschirowa, Direktorin eines kalmückischen Forschungsinstituts,
berichtete vor einem
UNESCO-Workshop
in der kalmückischen Hauptstadt (Combating Desertification. Traditional
Knowledge and Modern Technology for the Sustainable Management of Dryland
Ecosystems; 23.-27. Juni 2004), dass im nordwestlichen Teil des kaspischen
Gebiets seit 5.000 Jahren Viehzucht auf Weiden betrieben wurde. Auf dem
Territorium Kalmückiens als unabtrennbaren Teil des russischen Imperiums habe
sich im 17. und 18. Jahrhundert das ausbalancierte Ökosystem "kalmückische
Steppe" gebildet. Während dieser Periode habe man mehr als 200.000 Kühe,
100.000 Pferde, etwa eine Million fettschwänziger Schafe und 20.000 Kamele
gehalten. Dieses Ökosystem sei im 20. Jahrhundert durch gewaltsame
Veränderungen der traditionellen Lebensweise als Folge von Kriegen, Repression,
erzwungener Emigration und Exil aus den Fugen geraten. In der modernen
kalmückischen Gesellschaft müsse man sich daher wieder mehr auf das
traditionelle Wissen besinnen.
Der Militärhistoriker Joachim Hoffmann bemerkte, dass noch Lenin sich im Juli
1919 um das Wohlwollen der "kalmykischen Brüder" bemüht hatte (Deutsche und
Kalmyken 1942 bis 1945, S. 34), dass danach jedoch die Sowjetregierung die
Beseitigung der herkömmlichen Wirtschaftsweise, der lamaistischen Religion und
des nationalen Kulturerbes der Kalmücken anstrebte: "Im Jahre 1935 waren
72 % der Kalmyken gegenüber 17 % in vorrevolutionärer Zeit seßhaft geworden."
(J. Hoffmann, a.a.O. S. 38)
4. Deutsche und Kalmücken
1763 endete der Siebenjährige Krieg mit den
Friedensschlüssen von Paris und Schloß Hubertusburg - der preußische Besitz
Schlesiens wurde bestätigt (bis 1945). Im gleichen Jahr, am 22. Juli 1763, rief
die russische Zarin Katharina II., eine gebürtige deutsche Prinzessin von
Anhalt-Zerbst, Ausländer dazu auf, sich in Russland niederzulassen. Sie bot den
Emigranten Privilegien "auf ewige Zeiten" an. Die ersten Deutschen, die dem
Aufruf der russischen Zarin folgten, wurden in Gebieten entlang des Wolgastroms
angesiedelt. Damit begann die Geschichte der
Russlanddeutschen.
Von Januar 1924 bis August 1941 bestand in der UdSSR die Autonome
Sozialistische Republik der Wolgadeutschen.
Am 3. September 1765 gründeten Vertreter der Herrnhuter Brüdergemeine südlich
der heutigen Stadt Wolgograd an der Mündung des Flusses Sarpa in die Wolga eine
Siedlung mit dem biblischen Namen Zarpath (Sarepta; Bibel: 1. Kön. 17,9). Ihr
Auftrag bestand in der christlichen Missionierung der buddhistischen Kalmücken.
Die
Kalmücken-Mission
scheiterte,
1892 entließ
die Unitätsdirektion in Herrnhut Sarepta aus dem Kreis der
Brüder-Unitäts-Gemeinden - die Seelsorge wurde von der Evangelisch-Lutherischen
Kirche Russlands übernommen. Gänzlich vergeblich waren die Bemühungen der
Herrnhuter jedoch nicht; ihre Missionare erlernten die Sprache der Kalmücken
und übersetzten Schriften der Bibel ins Kalmückische (Matthäus-Evangelium
in Kalmückisch, übersetzt von Isaak
Jakob Schmidt [1779-1849], St. Petersburg 1815). Vor allem sorgten die
wissenschaftlichen Publikationen von Herrnhutern zu dem Objekt ihres
missionarischen Eifers dafür, dass Informationen über das unbekannte Volk der
Kalmücken und deren
Religion in
den Westen gelangten.
Außer den Reiseberichten von P. S. Pallas erwarb sich ein Werk des
Sprachforschers, Pastors und Historikers Benjamin [Fürchtegott von] Bergmann
(1772-1856) bleibenden Ruhm: Nomadische Streifereyen unter den Kalmüken in
Jahren 1802 und 1803, Riga 1804/05. Eine französische Übersetzung erschien
1825. Wegen seines unvergänglichen Wertes wurde das Werk 1969 in den
Niederlanden nachgedruckt. Der Verfasser lernte während eines kurzen
Aufenthaltes in Sarepta Kalmücken kennen. Er erlernte die Sprache und
verbrachte dann ein Jahr bei diesem Volk. Im ersten Band seines Buches
schilderte Benjamin Bergmann in Briefen Sitten und Gebräuche der Kalmücken. Ein
umfangreicher Aufsatz erzählt dann die Geschichte von der Kalmückenflucht an
der Wolga im Jahre 1771.
Bis zur russischen Revolution konnten die Kalmücken ihre nationale Identität,
ihre Religion, Sitten und Gebräuche und vor allem die extensive Viehzucht auf
Weiden weitgehend bewahren. Die Revolution erweckte in ihnen die Sorge, Bauern
könnten ihnen ihre Weidegebiete wegnehmen. Sie verbündeten sich mit den Kosaken
unter Denikin und kämpften gegen die Revolution. Die Niederlage der
Weißgardisten führte 1920 zur Flucht von Kalmücken nach
Jugoslawien, Bulgarien, in die
Tschechoslowakei und nach Frankreich sowie zur
Gründung eines buddhistischen Tempels in Belgrad.
Zeitschrift für Buddhismus, München 1925, S. 388
Für die in Russland verbliebenen Kalmücken wurde im Jahr 1920 ein autonomes
Gebiet (oblast) gegründet. Als der Widerstand gegen die Revolution gebrochen
war, begannen die sowjetischen Behörden seit Mitte der 20er Jahre mit der
systematischen Vernichtung der buddhistischen Tempel und Klöster. Durch die
Kollektivierungspolitik wurde das Nomadenvolk in die Seßhaftigkeit gezwungen.
1935 wurde das autonome Gebiet zur Kalmückischen Autonomen Sozialistischen
Sowjetrepublik aufgewertet, doch während der großen Säuberung Mitte der 30er
Jahre fanden auch in Kalmückien Massenverhaftungen statt, wonach führende
kalmückische Persönlichkeiten und fast alle noch lebenden buddhistischen
Priester verschwanden. Ein in Deutschland lebender kalmückischer
Exil-Politiker, Schamba Balinow, interpretierte die Vorgehensweise der
Sowjetregierung als Versuch, "die Besonderheiten des kalmykischen Volkes
auszumerzen, es auf der Grundlage der russischen Sprache und Kultur zu
assimilieren, um im Interesse der russischen Großmachtsidee ein einheitliches
'Sowjetvolk' (sovetskij narod) zu schaffen." (J. Hoffmann, a.a.O. S. 39)
Bekannt ist, dass kurz nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges am
22. Juni 1941 zuerst die Wolgadeutschen, dann alle Deutschen, die im
europäischen Teil der UdSSR lebten, deportiert wurden. Weniger bekannt ist,
dass in der UdSSR die Deportation ganzer Völker lange vor diesem Krieg begann.
Alexander Jakowlew, bekannt geworden als Berater Michail Gorbatschows und
Vorsitzender der Kommission zur Rehabilitierung der Opfer politicher
Repressionen, schrieb: "Schon am 26. April 1936 fasste der Rat der
Volkskommissare der UdSSR den Beschluss über die Aussiedlung von 15.000 Polen
und Deutschen als politisch Unzuverlässige aus der Ukrainischen SSR ins Gebiet
Karaganda. Danach begann die Säuberung der Grenzbezirke. Zur ersten Gruppe der
Deportierten gehörten 35.820 Polen." (A. Jakowlew, Die Abgründe
meines Jahrhunderts. Eine Autobiographie, Faber&Faber 2003, S. 252) Bald
danach wurden die Kurden aus Armenien, Aserbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan
und Tadschikistan umgesiedelt. 1937 erfolgte die massenhafte Deportation von
Koreanern, Ende November 1937 begannen Repressionen gegen Letten, im Dezember
gegen Griechen und Chinesen, im Januar 1938 gegen die aus dem Iran stammenden
Armenier, im Februar 1938 gegen Finnen, Esten, Rumänen, weitere Chinesen,
Bulgaren und Mazedonier sowie Afghanen. Auch 3.335 Engländer wurden von
NKWD-Chef Jeschow der Repression unterzogen (vergl. A. Jakowlew, a.a.O. S.
256). Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR veröffentlichte am 1. Mai 1996 eine
statistische Übersicht
zu den "bestraften Völkern" und den Massendeportationen.
So kam es im Sommer 1942, als deutsche Truppen in Kalmückien einmarschierten (Elista
wurde am 12. August 1942 eingenommen), zu einem Phänomen, über dessen Ausmaß
nach dem Krieg Historiker und Propagandisten lange geschwiegen und dann
gestritten haben: die Kollaboration von Kalmücken mit den Deutschen.
Faktum ist: Ende Dezember 1943 wurde die Kalmückische ASSR durch geheim
gehaltenen Erlass des Obersten Präsidiums der UdSSR aufgehoben (vergl J.
Hoffmann, a.a.O. S. 162), es wurde der Befehl zur Aussiedlung der Kalmücken
erteilt - "wie aus heiterem Himmel. Solcherlei geschah nicht nur in
Kalmykien, sondern auch im Gebiet Rostow, Stalingrad und Stawropol. Deportiert
wurden insgesamt 99.252 Menschen" (A. Jakowlew, a.a.O. S. 257).
Nikita S. Chruschtschow sagte am 25. Februar 1956 in seiner "Geheimrede" auf
dem XX. Parteitag der KPdSU:
" (...) Genossen! Lassen Sie mich noch einige andere Dinge erörtern. Mit Recht wird die Sowjetunion als mustergültiger Vielvölkerstaat angesehen, weil wir in der Praxis die Gleichheit aller in unserem großen Vaterlande freundschaftlich zusammenlebenden Völker sichergestellt haben.
Um so ungeheuerlicher sind die Taten, die auf Veranlassung Stalins begangen wurden und schwere Verstöße gegen die fundamentalen leninistischen Grundsätze der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates darstellen. Wir meinen die Massendeportationen ganzer Völkerschaften mit samt allen Kommunisten und Komsomolzen, ohne jede Ausnahme. Diese Deportationen waren durch keinerlei militärische Überlegungen diktiert.
So wurde bereits gegen Ende des Jahres 1943, als sich im großen vaterländischen Kriege durch die Durchbrüche unserer Armee an den Fronten das Blatt zugunsten der Sowjetunion wendete, ein Beschluß über die Deportation sämtlicher Karatschajer aus ihrer angestammten Heimat gefaßt und durchgeführt. Im gleichen Zeitraum, Ende Dezember 1943, ereilte die gesamte Bevölkerung der Autonomen Kalmückenrepublik dasselbe Schicksal. Im März 1944 wurden sämtliche Tschetschenen und Inguschen deportiert, und die Autonome Republik der Tschetschenen und Inguschen wurde aufgelöst. Im April 1944 wurden alle Balkaren aus dem Gebiet der Autonomen Republik der Kabardiner und Balkaren in entlegene Gebiete verschleppt, und die autonome Republik selbst wurde in Autonome Kabardinische Republik umgetauft. Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal lediglich deshalb, weil sie zu zahlreich sind und kein Raum vorhanden war, wohin man sie hätte deportieren können. Sonst hätte er sie auch deportiert. (Gelächter und Heiterkeit im Saal)
Kein Marxist-Leninist und überhaupt kein vernünftiger Mensch kann verstehen, wie es möglich ist, ganze Völker samt Frauen und Kindern, alten Leuten, Kommunisten und Komsomolzen für feindliche Handlungen verantwortlich zu machen, Massenrepressalien gegen sie anzuwenden und sie wegen der Schädlingsarbeit einzelner oder kleinerer Gruppen der Not und dem Elend auszusetzen. (...)" (zitiert nach: Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren, Rowohlt 1992, S. 525)
Einzelne oder kleinere Gruppen... Diesem "Kunstgriff" gegenüber betonte der Militärhistoriker Joachim Hoffmann:
" (...) Die deutsch-kalmykische Zusammenarbeit im Zweiten Weltkrieg war eine Folgeerscheinung des völligen Scheiterns der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Sie war aus sich heraus entstanden und von breiten Schichten des kalmykischen Volkes getragen. In einer historisch günstig erscheinenden Konstellation haben die treibenden Kräfte versucht, sich einer allgemein als mißliebig empfundenen Herrschaft zu entledigen - das echte Motiv eines jeden politischen Freiheitskampfes. Der Befreiungsversuch ist fehlgeschlagen, und die Kalmyken sollte es teuer zu stehen kommen, daß sie die Deutschen, die 1942 gleichsam als Repräsentanten einer dritten Großmacht in ihren Gesichtskreis und in ihr Leben getreten waren, unterstützt haben. (...)" (J. Hoffmann, a.a.O. S. 175)
5. "Dr. Doll", Kalmücken und Kamele
Die für deutsch- und russischsprachige Medien
tätige russische Journalistin Nellja Veremej veröffentlichte im Januar 2004 in
der Wochenzeitschrift
Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung
einen Bericht über das Schicksal der Kalmücken. Als Quelle benannte sie die
kalmückische Anthropologin Elsa Gutschinova. Sie benützte außerdem Material
(wie das Merkblatt Grundsätze für die Behandlung der Kalmücken), das in
Joachim Hoffmanns Werk zu diesem Thema ausführlich dokumentiert ist. Elsa-Baïr
Gutschinowa war übrigens auch schon als
Beraterin für den Präsidenten
Kalmückiens und des Weltschachbundes FIDE Kirsan Iljumschinow tätig.
Laut Nellja Veremej hat Elsa-Baïr Gutschinowa, "die sich mit der bis
heute verdrängten Seite der Geschichte in Kalmückien befasst", den Weg
des Kalmücken-Verbandes von der Wolgasteppe bis nach Österreich anhand der
Anweisungen bezüglich der in Europa exotischen Kamele rekonstruiert: "Das
Auffälligste waren die Kamele." Hierzu ist anzumerken, dass die
Verbindung zwischen Kalmücken und Kamelen nicht eindeutig ist, da
auch deutsche Wehrmachtsangehörige Kamele
einsetzten.
Den NS-Strategen sei es gelungen, schrieb Nellja Veremej, "die
Fehlschläge der sowjetischen Zwangskollektivierung und der
Nationalitätenpolitik zu ihren Gunsten auszunutzen. Indem sie den Bauern Land
und den ethnischen Minderheiten ihr Selbstbestimmungsrecht versprachen,
gewannen sie die Kalmücken für die deutsche Sache". Dann erwähnt sie
einen Abwehroffizier mit dem Decknamen "Dr. Doll": "Die Verführung der
Kalmücken wird Dr. Dolls geheimdienstliches Lebenswerk."
J. Hoffmanns Buch enthält einige biografische Angaben zu "Dr. Doll", dem
"Vater" der Kalmücken. Als sein Geburtsdatum gilt der 2.11.1900, er starb im
Juli (?) 1944, als sein Kalmückenverband bei Lublin von Einheiten der Roten
Armee überrannt wurde. Der eigentliche Name von "Dr. Otto Doll", Leiter des
Abwehrtrupps 103 und Sonderführer (Z), war Othmar [Rudolf] Werba [auch Wrba].
Er stammte aus dem Sudetenland, war k.u.k. Offizier und nahm unter dem
ukrainischen Befehlshaber Simon Petljura (1879-1926) am russischen Bürgerkrieg
teil (1918-1920). Zwischen den Weltkriegen war er als Kaufmann und Architekt
tätig. Zweieinhalb Jahre hatte er anscheinend als Beauftragter der Abwehr dem
deutschen Konsulat in Odessa angehört. Am 11. August 1942 wurde er in die
Steppe entsandt. Sein Abwehrtrupp 103 bestand aus ihm selbst, einem deutschen
Fahrer und einem Funker. J. Hoffmann: "Verständlicherweise wares es die
wenigen den Verfolgungen entgangenen Priester, die den Deutschen jetzt
freundlich gegenübertraten und eine erste Mittlerrolle spielten. Ein seltsamer
Umstand kam ihnen hierbei zustatten, denn einige Lamas wollten das Hakenkreuz
an der Uniform des Dr. Doll mit dem altbuddhistischen Heilszeichen
identifizieren." (J. Hoffmann, a.a.O. S. 23)
Zu der Bewertung Dr. Dolls als "Verführer der Kalmyken" bemerkte J. Hoffmann (a.a.O.
S. 125 f.): "Nicht Dr. Doll hat jedoch die Voraussetzungen der
deutsch-kalmykischen Zusammenarbeit geschaffen, er hat es nur verstanden, die
grundsätzlich hierzu vorhandene Bereitschaft erfolgreich zu aktivieren. Wenn es
zutrifft, daß er Warnungen in den Wind geschlagen haben soll, die Kalmyken, die
schon im Bürgerkrieg bis 1920 einen überaus hohen Blutzoll entrichtet hatten,
könnten im Fall einer deutschen Niederlage ihrer geringen Volkszahl wegen
restlos ausgelöscht werden, so wäre doch anzumerken, daß eine solche
Möglichkeit im Hochsommer und Herbst 1942 noch außerhalb des damals
Vorstellbaren lag. Und schließlich, das Scheitern der kalmykischen
Befreiungsbestrebungen vermochte er ebensowenig zu verhindern, wie das Unglück
abzuwenden, das die sowjetische Führung kraft souveränen Entschlusses im Jahre
1943 dem kalmykischen Volk bereitet hat."
Auf Seiten der UdSSR dienten kalmückische Soldaten in mehreren Verbänden. Im
November 1941 wurde außerdem beschlossen, eine "110. Besondere Kalmykische
Kavalleriedivison" aufzustellen (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 83 ff.). Wegen
des Beschlusses zur Deportation der Kalmücken im Dezember 1943 wurden die
kalmückischen Soldaten in das Hinterland abgeschoben und zum Arbeitseinsatz
abkommandiert. So erklärt sich der Satz in Iljumschinows
Autobiografie (S. 12): "Ich
erfuhr, dass unsere kleine Nation während des zweiten Weltkriegs dreiundzwanzig
Helden der Sowjetunion hervorgebracht hat. Und wenn man sie damals nicht zum
Exil verurteilt hätte, würden die Kalmücken bis zum Kriegsende diese Zahl
sicherlich verdoppelt haben."
Auf Seiten der Wehrmacht wurden im September 1942 zwei kalmückische Schwadronen
aufgestellt, deren Personal von Dr. Doll ausgewählt worden war. Diese Verbände
wurden auf Betreiben von Major Graf v. Stauffenberg fester Bestandteil des
deutschen Heeres (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 92). Danach wurden weitere
Schwadronen aufgestellt. Diese Einheiten wurden erfolgreich eingesetzt bei der
Nah- und Fernaufklärung im Bereich Astrachan und im Wolgadelta sowie bei der
Partisanenbekämpfung.
Kalmückien blieb etwa ein halbes Jahr von deutschen Truppen besetzt. Gegen Ende
des Jahres 1942 wurde das Land geräumt, die deutschen Truppen zogen sich auf
den Don zurück. Was tun mit den Kalmücken? Nach Meinung der Verantwortlichen
(darunter Dr. Doll) gehörten sie in die Steppe, man könnte sie allenfalls noch
in den Randgebieten des Asowschen Meeres einsetzen. Unter Vermittlung des Chefs
der Abteilung Fremde Heere Ost, Oberst Gehlen (dem späteren Chef des
Bundesnachrichtendienstes), erging Anweisung, die Kalmücken "ihrer Eigenart
entsprechend einzusetzen" (J. Hoffmann, a.a.O. S. 113). Durch den Zustrom
waffenfähiger Flüchtlinge war die Zahl der Kalmücken so angewachsen, dass noch
im Februar 1943 neue Einheiten aufgestellt werden konnten. In deutschen Akten
wurde das kalmückische Kavallerieregiment meist "Kalmückenverband Dr. Doll"
genannt, die Kalmücken selbst nannten ihre Einheit "Kalmückisches
Kavallerie-Korps" (J. Hoffmann, a.a.O. S. 115).
Am 6. Juli 1944 bestand das Kalmückische Kavallerie-Korps aus 147 kalmückischen
Offizieren, 374 Unteroffizieren und 2.917 Mannschaften sowie 4.600 Pferden.
Mitgeführt wurde einen größere Anzahl von Zivilpersonen - Frauen und
Familienangehörige (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 136). Nellja Veremej
bezifferte die Gesamtzahl derjenigen Kalmücken, die den deutschen Truppen
gefolgt waren, weil sie in ihrer von der Roten Armee zurückeroberten Heimat
"keine Überlebenschance" hatten, auf etwa
10.000 Menschen.
Mitte Januar 1945 wurden die Kalmücken im Raum Radom/Kielce ein zweites Mal von
der Roten Armee überrollt und völlig zersprengt. Insbesondere unter den
Familienangehörigen waren schwere Verluste zu verzeichnen. In Gruppen retteten
sich die Kalmücken nach Westen, wo sie auf dem Truppenübungsplatz Neuhammer
reorganisiert wurden -
die überlebenden Zivilpersonen wurden nach Bayern evakuiert. Das neuaufgebaute
kalmückische Kavallerieregiment wurde nach Kroatien zum XV.
Kosaken-Kavallerie-Korps in Marsch gesetzt (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 154
f.).
Zu der am 25. März 1945 beschlossenen Unterstellung aller Verbände im XV.
Kosaken-Kavallerie-Korps unter Generalleutnant Wlassow kam es nicht mehr. Bei
Kriegsende befand sich das kalmückische Kavallerieregiment auf dem Rückzug in
Kroatien. Die Offiziere beschlossen im April 1945, dass sich das Regiment in
kleinen Gruppen zu den westlichen Alliierten durchschlagen und gefangen nehmen
lassen sollte. Der größte Teil der kalmückischen Soldaten fiel jedoch in die
Hände jugoslawischer Partisanen, kleinere Teile des Verbandes, die über die
Drau geflüchtet waren, wurden von den Briten bei Judenburg an die Rote Armee
ausgeliefert (J. Hoffmann, a.a.O. S. 162).
Die Anzahl derjenigen Kalmücken, die von den Briten 1945 an die Sowjets
ausgeliefert wurden, bezifferte Nellja Veremej auf
4.000. In
Österreich verliert sich auch die Spur der Kamele.
6. Die Verbannung
Kirsan Iljumschinow berichtet in seiner
Autobiografie (S. 23), dass noch Anfang
der 1980er Jahre KGB-Angehörige ihr Prestige dadurch zu heben suchten, dass sie
die Verwandten derjenigen Kalmücken zu ermitteln versuchten, die im zweiten
Weltkrieg den Deutschen westwärts gefolgt waren oder das Land nach dem ersten
Weltkrieg mit den Weißgardisten verlassen hatten. Dabei waren es seiner Ansicht
nach die kalmückischen Emigranten, die gegen die Zwangsumsiedlung der Kalmücken
protestierten, Unterschriften sammelten, Petitionen verfassten und sich an die
UNO wandten. Sie waren es, die zuerst davon sprachen, dass man den Kalmücken
gestatten müsse, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie wandten sich an die
Weltöffentlichkeit, wodurch sie Chruschtschow zwangen, den Kalmücken nach
dreizehn Jahren im Exil die Heimkehr zu gestatten ("thus forcing
Khrushchev to allow them to come back home after thirteen years in exile"
(Iljumschinow, a.a.O. S. 24).
Diese Ansicht Iljumschinows stimmt überein mit der Darstellung des deutschen
Militärhistorikers Joachim Hoffmann (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 168). Zwei
Münchner Exilkalmücken hielten sich während der im April 1955 in Bandung
stattfindenden Konferenz afro-asiatischer Staaten auf und konnten wichtige
Politiker der dort repräsentierten Länder für die Kalmückenfrage interessieren.
Es war vermutlich die Rücksichtnahme auf den Ruf der UdSSR in den Ländern der
"Dritten Welt", die Chruschtschow 1956 zur Verurteilung der Deportierung der
verfemten Völker (mit Ausnahme der Wolgadeutschen und der Krimtataren)
veranlasste. Bald darauf wurde wieder ein Kalmückisches Autonomes Gebiet
hergestellt, und per Erlass vom 29. Juli 1958 wurde dieses Gebiet in die
Kalmückische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik umgewandelt.
Etwa 65.000 Kalmücken kehrten aus der Verbannung an die Wolga zurück. Die Zahl
derjenigen, die in den Deportierungsgebieten zu Tode kamen, ist nicht genau
bekannt, doch soll sich die Zahl der Kalmücken auf dem Gebiet der UdSSR
zwischen 1939 und 1959 von über 134.000 auf 106.000 verringert haben, von denen
96.000 das Kalmückische als ihre Muttersprache betrachteten (J. Hoffmann, a.a.O.
S. 169).
Kirsan Iljumschinow, der heutige Präsident Kalmückiens, wurde 1962, zwei Jahre
vor der Entmachtung Chruschtschows und dem Beginn der Breschnew-Ära geboren.
Die überlebenden Kalmücken waren zurückgekehrt, doch sie waren voller Furcht.
Es gab keine Familie, die nicht Angehörige in Sibirien verloren hatte, aber man
sprach nicht gerne über die Vergangenheit, schon gar nicht vor Kindern. Die
Partei wollte, nachdem sie ihre Fehler eingeräumt hatte, nichts mehr von dem
Thema hören. Angesichts ständiger KGB-Verhöre habe die ältere Generation, so
berichtete Iljumschinow (a.a.O. S. 10), sich angewöhnt, sich an nichts zu
erinnern, um nichts zu verraten. "Ich weiß nichts, ich habe nichts gesehen, ich
erinnere mich nicht" - so sei die Geschichte des kalmückischen Volkes entleert
worden, die Kette zwischen den Generationen zerbrochen.
7. Kollaboration heute
Am 5. Mai 2005, wenige Tage vor den russischen
Feiern zum Tag des Sieges vor 60 Jahren, veröffentlichte der bekannte russische
Journalist Anatoli Medetski in der Publikation
Moscow Times
einen Beitrag zum Thema der Kollaboration: "Soviets Who Joined the Nazis" [der
Beitrag ist auch im
Ocnus-Net
archiviert]. Medetski stützt sich in seinem Beitrag auf Informationen, die er
von einem Geschichtsprofessor namens Nikolai Kirsanow sowie einem
Wissenschaftler namens Sergei Tschujew erhalten hat. Tschujew soll das Thema
der Überläufer seit sechs Jahren erforscht haben.
Erschwert würden die Forschungen auf diesem Gebiet dadurch, dass der russische
Inlandsgeheimdienst die Sowjetarchive versiegelt hat, aus denen hervorgehen
könnte, wieviele Menschen genau die Seiten wechselten, welche Bedrohung sie für
Moskau dargestellt haben könnten und was aus diesen Menschen geworden ist. Das
meiste von dem, was bekannt sei, stamme aus den Archiven der KPdSU und
Berichten weißgardistischer Emigranten, die auf deutscher Seite kämpften.
Die Kosaken werden in dem Beitrag Medetskis nicht erwähnt, wohl aber, unter
anderen Gruppen, die Kalmücken, aus denen die Deutschen ein Kavallerie-Korps
mit 4.000 Mann bildeten. Als die Rote Armee 1943 und 1944 begann, die Deutschen
zurückzutreiben, habe Stalin zurückgeschlagen, indem er Hundertausende von
Krimtataren, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen und Balkaren deportieren ließ.
Die Deportationen seien gerechtfertigt gewesen in einem Krieg, der das Land an
den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte. "Es war keine Rache. Ein im
Krieg befindliches Land mit solchem internen Widerstand muss diesen Widerstand
durch eine solch grausame Methode unterdrücken", zitierte Medetski
Sergei Tschujew.
Die westlichen Alliierten hätten zwar viele Sowjetbürger gefangengenommen und
sie Moskau übergeben (wonach einige exekutiert und andere in Arbeitslager
geschickt wurden), doch seien Sowjetbürger, die für den deutschen
Nachrichtendienst tätig waren, und sowjetische Kinder, die von den Nazis in
Spezialschulen zu Spionen ausgebildet worden waren, von den westlichen
Alliierten zurückbehalten worden. Diese Leute seien während des Kalten Krieges
zur Spionage gegen die Sowjetunion benützt worden, schrieb Medetski unter
Berufung auf Sergei Tschujew am 5. Mai 2005.
8. Iljumschinow 60 Jahre nach Kriegsende
Der kalmückische Präsident Kirsan N.
Iljumschinow, der am 17. März 2005 für sechs Monate zugleich Mitglied des
Präsidiums des russischen Föderationsrates wurde, nahm am 8. Mai 2005 an der
Eröffnung einer russisch-orthodoxen Kapelle teil, auf deren Mauern im Innern
die Namen von 44.000 kalmückischen Soldaten und Offizieren eingetragen sind,
die seit dem Krieg gegen Napoleon 1812 bis zum ersten und zweiten Weltkrieg
getötet wurden. Die Planungen für den Bau dieser Kapelle reichen weit zurück,
berichtete die russische Nachrichtenagentur
REGNUM. Schon 1997 segnete der
russische Patriarch Alexei II. den Boden, auf dem die Kapelle jetzt errichtet
wurde.
Am 17. Juni 2005 reiste Russlands Präsident Wladimir Putin nach Kalmückien, um
in Elista an einer Sitzung des Präsidiums des Föderationsrates zum Stand der
russischen Landwirtschaft teilzunehmen. Zu Putins Besuchsprogramm gehörten
ferner laut
RIA Nowosti
eine Kranzniederlegung an der Gedenkstätte für die Helden des Bürger- und des
Großen Vaterländischen Krieges sowie die Besichtigung eines buddhistischen
Tempelensembles.
Der Nachrichtenagentur
Itar-Tass
zufolge bat Iljumschinow den russischen Präsidenten bei dessen Besuch am 17.
Juni um Hilfe bei der Lösung des Trinkwasser-Problems in Kalmückien. Es gebe
zwar ein Trinkwasser-Programm für Russland, doch Kalmückien sei darin nicht
enthalten.- Trinkwasser ist ein altes Problem Kalmückiens, seitdem die
sowjetischen Behörden darauf drängten, die Kalmücken seßhaft zu machen. So
wurde Elista als Hauptstadt mitten in der Steppe erbaut, ohne dass man die
natürlichen Gegebenheiten berücksichtigt hätte, weswegen sich bald Wassermangel
bemerkbar machte (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 38).
Gerald Schendel / 23.06.2005