Schach als Titelstory

von ChessBase
05.10.2006 – Um Schach in New York auf die Titelseiten der größten Zeitungen zu bekommen, muss man schon Einiges leisten. Das letzte mal war dies vielleicht 1972 der Fall, als Bobby Fischer allein gegen das Schachimperium der UdSSR antrat. Oder als der Dissident Viktor Kortschnoj sich 1978 mit Anatoly Karpov einen Psychokrieg lieferte, der im Joghurt-Protest seinen Höhepunkt fand. Diesmal war ein Protest wegen einer zu hohen Toilettenfrequenz - nichts anderes als ein Dopingvorwurf - der Auslöser für einen Streit, dessen Intensität die Journalisten weltweit auf den Plan rief. Misha Savinov hat die Vorgänge der letzten Woche in Elista als Augenzeuge selbst erlebt. Er legt hier sein Protokoll in Worten und in Bildern vor und erzählt, wie vielleicht eine Portion frische Luft den Wettkampf gerettet hat. Mehr...

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Wie man Schach auf die Titelseite in New York bekommt
Von Misha Savinov


Silvio Danailov

Es ist sehr merkwürdig, dass ich, anstatt die Partien der Schachweltmeisterschaft und die damit verknüpfte Spannung und Aufregung zu schildern, gezwungen bin, eine Story zu schreiben, wie Schach es auf die Titelseite der New York Times gebracht hat. Für dieses nebensächliche Ereignis war eine wilde Mischung aus Ehrgeiz und Inkompetenz, Druck und Unentschlossenheit, Diplomatie und Beleidigung erforderlich.

Danailovs paranoider (oder klug durchdachter) Zug provozierte eine unkontrollierte Kettenreaktion, die die seit 1993 am stärksten herbei gesehnte Schachshow beinahe zerstört hätte.

Beim Surfen im Web stellte ich fest, dass die Schachgemeinde keineswegs gespalten ist. Jeder (Bulgaren ausgenommen) scheint auf Kramniks Seite zu sein. Ich kann das verstehen. Kramnik bewies normales menschliches Verhalten.


Vladimir Kramnik

Er wurde beleidigt und fühlte sich angegriffen, was dazu führte, dass er die nächste Partie ignorierte, sich über unfaire Entscheidungen beklagte und Unterstützung suchte. Es gibt kein Grund, ihm etwas vorzuwerfen; die meisten von uns wären empört, wenn unsere Gegner ein solch delikates Thema an die Weltöffentlichkeit bringen würden.

Aber … und ich vermute, Sie wissen bereits, was ich sagen werde. Ja, das Appeals Committee traf eine sehr unglückliche und wahrscheinlich technisch falsche Entscheidung. (Nebenbei bemerkt sollte ich erwähnen, dass der Vorschlag, den Bulgaren die Videoaufzeichnung zu übergeben, nicht einstimmig akzeptiert wurde.) Aber wie sollte man mit einer solchen Situation umgehen? Einen offiziellen Protest einreichen und den Wettkampf fortsetzen – das ist meine Antwort. Sich überall außer bei den Offiziellen beklagen und eine kinderleichte Niederlage erleiden – das ist, was tatsächlich geschah.

Ich stimme zu, dass Silvio Danailov den Prozess in Gang gesetzt hat und das AC (Makropoulos, Azmaiparashvili und Vega) noch weiter Öl ins Feuer gegossen haben. Allerdings trägt auch Carsten Hensel ein Teil der Verantwortung für die anschließenden Probleme, die den Wettkampf beinahe zum Abbruch geführt hätten.


Carsten Hensel

Als Delegationsleiter musste er sich an die Wettkampfregeln halten. Als Bürokrat, wenn man so will. Alle Trümpfe waren in seiner Hand. Die öffentliche Meinung in der ganzen Welt war auf Kramniks Seite. Er musste nur ein paar richtige Züge machen, aber irgendwie wurden sie übersehen.

Selbst später, als er schließlich einen offiziellen Protest einreichte, musste ihn das neu gewählte Appeals Committee an die erforderliche Kaution und andere Details erinnern … Um Gottes Willen, RTFM! (Abkürzung für „Read the fucking manual“, etwa: „Lies das verdammte Handbuch“, Anm. des Übers.)


Carsten Hensel, li. Boris Kution (Mitglied des neuen Appeals Committee)

Hier zeigt sich, wozu Profis durch Wettbewerbe auf höchstem Niveau gebracht werden – sie fangen an, grobe Fehler zu machen. Nicht nur Schachspieler, sondern, wie wir sehen, auch Manager, Offiziellen und natürlich Journalisten – nobody is perfect.

Als ich meinen letzten Bericht geschrieben habe, konnte ich mir nicht vorstellen, dass die Toilettenkrise so ernst ist. Doch als ich ein paar Stunden vor Beginn der fünften Partie ins Pressezentrum kam, stellte sich schnell heraus, dass die Lage kritisch ist.

Gerüchte tauchten auf, dass Kramnik nicht spielen würde. Ein beunruhigter Silvio Danailov redete mit Journalisten, Organisatoren und FIDE-Leuten. Kirsan war nicht zu sehen, da er nach Sotschi zu einem Treffen mit Putin gefahren war. Ohne den FIDE-Präsidenten schien niemand in der Lage zu sein, entschlossene Entscheidungen zu treffen. Alles sah düster aus.


Topalov und Balgabaev, Ilyumshinovs rechte Hand

Die um 15 Uhr verkündete technische Pause bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Kramnik war anwesend, in seinem Ruheraum, aber er weigerte sich zu spielen. Miguel Illescas bestätigte dies im Pressezentrum – Vladimir wird nicht spielen, wenn die Toilette nicht wieder aufgeschlossen wird. Da niemand außer dem FIDE-Präsidenten die Entscheidung des ACs aufheben konnte, und Kirsan gerade einen Brief geschickt hatte, in dem dessen Entscheidung unterstützte, war klar, dass Topalov ausgezeichnete Chancen hatte, den Rückstand zu verringern. Veselin untersuchte die neue Toilette, die vorher den Damen vorbehalten war und kehrte in den Spielsaal zurück. Die Uhren wurden um 15:22 in Gang gesetzt.


Topalov, allen am Brett

Mr. Makropoulos begann seine Pressekonferenz etwa 15 Minuten später. Er legte die Position der FIDE recht eindeutig war, wenn auch mit vielen Wiederholungen.


Pressekonferenz mit Makropoulos

Es ähnelte der berühmten Moskauer Pressekonferenz von Campomanes, die den Wettkampf 1984-85 beendete – der Mann wiederholte einfach die gleichen Dinge, entweder, um die Lage neu zu bewerten oder um neue Entwicklungen abzuwarten. Kramnik brauchte nicht lange, um nach Zeit zu verlieren und mit ein paar Schritten zur Pressekonferenz zu stoßen.

Ich habe Vladimir noch nie so aufgeregt gesehen. Anfangs sprach er Englisch und stritt mit Makro, indem er ihn fragte, ob die FIDE glaube, er würde von der Toilette aus betrügen. Die Spannung war beinah körperlich zu spüren – manchmal hatte ich das Gefühl, Kramnik verspürte den Wunsch, ihm eine reinzudrücken … Dann beruhigte sich Vladimir ein wenig, fiel ins Russische und gab eine Erklärung ab, nach der die Journalisten zwei Anrufe machten bzw. zwei Emails schrieben. Den ersten an ihre Auftraggeber, den zweiten an ihre Familien: ‘Es sieht so aus, als ob wir nach Hause fahren.’

Ich war im Pressezentrum und arbeitete am Bulletin, das aus offenen Briefen, Protesten, Interviews und Fotos bestand, als Kirsan Ilyumzhinov gegen 22:40 zusammen mit anderen hochrangigen russischen Politikern den Raum betrat. ‘Oh mein Gott, was für eine Situation! Was denken die Leute darüber? Was würden Sie mir raten, zu tun?’ – wandte er sich mit seinem üblichen Lächeln an die Journalisten. ‘Retten Sie den Wettkampf, Sie sind die einzige Person, die das jetzt kann’ – antwortete ein junger Reporter. Aber zu diesem Zeitpunkt schien das überhaupt nicht mehr machbar zu sein.


Kann Ilyumshinov das Match retten

Der nächste Tag begann für mich mit einem Besuch beim Kinderturnier, das vor allem organisiert worden war, damit die jungen Schachfans die großen Spieler sehen konnten. Der Wettkampfaufschub war wirklich niederschmetternd für sie …



Anschließend frühstückten wir im Hauptgebäude von Chess City.


Chess Palace

Frühstück ist eine großartige Gelegenheit, Neuigkeiten zu erfahren, und tatsächlich gab es viele davon. Unter anderem erfuhren wir, dass Zhukov, der Präsident des Russischen Schachverbands, Kramnik angerufen hatte, um ihn seiner völligen Unterstützung zu versichern (Gerüchte, aber sehr plausible Gerüchte). Neben der offensichtlich anfechtbaren Entscheidung, Topalov einen kampflosen Punkt zu geben, führte das zu einer Blockade der Situation.

Die Verhandlungen zogen sich über den ganzen Tag hin, nur von kleinen Imbisspausen unterbrochen. Irgendwann gingen die Parteien ins Freie, wahrscheinlich, weil Hensel und Markopoulos schwere Raucher sind (aber vielleicht auch der Publicity wegen; wie auch immer, ich glaube, das war eine gute Idee).


Verhandlungen an der frischen Luft


Hensel, Balgabaev, Ilyumshinov, Makropoulos



Presseerklärungen

Nach dem Ende der Runde erzählte ich den FIDE-Leuten von dem Artikel auf der Titelseite der New York Times, der der Wettkampfpause gewidmet war. Sie haben ihn aufmerksam gelesen.


Balgabaev, Makropoulos, Ilyumshinov lesen die Nachrichten


Hensel und Bareev

Kann mir irgendjemand sagen, wann Schach das letzte Mal auf der Titelseite der New York Times war? Fischer? Kasparov-Short? Karpov-Korchnoi? Ich frage mich das nur einfach …

Auf dem Weg vom Verhandlungsort traf ich die Bulgaren, die um ihr Landhaus herumliefen. Topalov, in grünem Hemd mit gelben Streifen, war sehr mitteilsam und lebhaft.


Topalov gestikuliert lebhaft

Danailov redete in sein Handy und er redete viel.


Silvio Danailov

Doch Sport-Express Reporter Yury Vasiljev passte einen Moment zwischen den Anrufen ab, und fragte ihn, wie es wäre, dem Druck nachzugeben und ein Stand von 3-1 zu akzeptieren. Silvio war unnachgiebig: ‘Wenn wir das akzeptieren, wird ganz Bulgarien denken, dass sie uns gekauft haben. Wir werden uns dem Druck nicht beugen.’ Schlechte Neuigkeiten für den Wettkampf, dachte ich. Kramnik ist keineswegs kompromissbereiter als Danailov.

Am nächsten Tag bestätigte eine Presseerklärung von Kirsan und den beiden Managern, dass in Bezug auf das Ergebnis keine Fortschritte erzielt wurden.

‘Die Toilettenfrage wurde beinahe geklärt’ – wen interessierte das wirklich?! Dennoch vergingen weitere sieben Stunden, bis aus ‘beinahe’ ‘vollkommen’ wurde … Irgendwann schlugen die Organisatoren vor, dass Topalovs Delegation die Toiletten Stein für Stein abtragen, untersuchen und mit von der bulgarischen Seite ausgewähltem Material wieder aufbauen sollten. Solch drastische Maßnahmen wurden abgelehnt, aber Danailovs Spezialisten untersuchten jeden Zentimeter der Toilette, während Silvio eine schnelle Partie mit Kirsan spielte und sich ein paar Webseiten, auf denen Laptops angeboten wurden, anschaute.



Die Frist für die endgültige Entscheidung über den Stand des Wettkampfs lief um Mitternacht ab, aber zu guter Letzt musste doch noch etwas früher als im Zeitplan vorgesehen geschehen. Ilyumzhinovs Pressesekretär informierte die Journalisten darüber, dass die Erklärung um 23 Uhr im Hauptgebäude von Chess City abgegeben würde. Alle eilten dorthin, abgesehen von den hungrigsten Zeitungsreportern, die keine Chance mehr hatten, ihre bereits geschriebenen Artikel zu ergänzen.



Die endgültige Entscheidung wurde im 4. Stock gefällt. Niemand vom Kramnik-Team war erschienen. Topalov ging mit Danailov nach oben, aber Letzterer kehrte sehr schnell zurück und überließ seinen Spieler einem Gespräch unter vier Augen mit Ilyumzhinov. Doch selbst in einer solchen Situation gelang es Kirsan nicht, Veselin davon zu überzeugen, zum Helden zu werden. Der Stand von 3-2 blieb unverändert.

Warum 3-2? Es gab starken öffentlichen Druck, alles zu Gunsten Kramniks zu regeln, und es gab starken politischen Druck, der in die gleiche Richtung ging. Doch die Sache war ein juristisches Problem und etliche Sportanwälte, darunter einer vom IOC, berichteten, dass Topalovs Position hier stärker wäre. Verschiedene andere Quellen, darunter Chessbase, zitierten andere Anwälte, die das Gegenteil behaupteten. Nun gut, in einem Rechtsstreit gibt es kein Richtig oder Falsch, bis der Richter das Urteil verkündet, weshalb jede strittige Frage in Hinblick auf Wahrscheinlichkeiten eingeschätzt werden sollte. Die FIDE ergriff nicht Partei für Topalov – die FIDE fällte lediglich eine Entscheidung, die ihr weniger riskant erschien.

Der nächste Morgen war niederschmetternd. Ich hatte meine Sachen nur deshalb nicht gepackt, weil ich nicht sicher war, ob das Match sofort zugunsten von Topalov entschieden würde oder ein bisschen später, nachdem Kramnik drei Partien in Folge kampflos verloren hätte. Doch genau in diesem Moment schwang irgendwo in Chess City das Pendel in die andere Richtung. In einem Telefongespräch mit einem bekannten Insider erhielt ich einen Hinweis, dass der Wettkampf weiter gehen könnte.


Peter Svidler: "Nur Gott kennt die Antwort."

(Nein, es war nicht Peter Svidler, der vor zwei Tagen in Elista angekommen ist. Ich habe nachgefragt, aber Peter hat gesagt, dass nur Gott die Antwort kennt.)



Die Leute im Pressezentrum waren fast alle ziemlich niedergeschlagen. Doch um 14:50 folgten alle dem Ritual und gingen zur Bühne, wo sie sahen, wie Carsten Hensel aus Kramniks Ruheraum auftauchte. Carsten, wie gewöhnlich untadelig gekleidet (was das betrifft, kann ihm hier nur Makropoulos Konkurrenz machen), eilte über die Bühne und landete im Saal. Dann erschien Topalov, voll konzentriert und mit einem Glas Wasser in der Hand. Und dann, nach ein paar Sekunden, trat eine groß gewachsene Gestalt hinter dem Vorhang hervor … Kramnik. Topalov sah ihn, lächelte und streckte seine Hand aus. Alles geschah schnell, der Händedruck war kurz, aber die Spieler zeigten eindeutig keine Feindschaft gegeneinander und dies ist vielleicht der wichtigste Teil der Geschichte. Nichts Persönliches; einfach nur Business.

Über die Partie kann man nicht viel sagen. Der Wettkampf befand sich in einem hoffnungslosen Koma, aber wachte plötzlich auf. Wen kümmert es, wenn die ersten Bewegungen noch ein wenig zittrig sind? Topalov sicherte sich einen kleinen Vorteil in der Eröffnung, wobei er dafür die Damen tauschen musste. Kramnik verliert solche Stellungen nicht. Punkt.





Obwohl die Situation nicht vollkommen geklärt ist (Proteste treffen weiterhin ein), lächelte Vladimir während der Pressekonferenz sehr oft.





Manchmal ist es gut, sich wie ein Held zu fühlen.


Hensel, Illescas zeigt vier Finger, Svidler

 

 

 

 

 

 

 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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