Der Schachtürke bleibt spannend

von ChessBase
09.06.2005 – Der 1770 erbaute Schach spielende Automat des Baron von Kempelen sorgt auch heute noch für Gesprächsstoff. Im Sommer zeigte die Berliner Humboldt-Universität eine Ausstellung mit den Erfindungen des Wolfgang von Kempelen, der neben dem berühmten Schachtürken auch eine Sprechmaschine, den Vorläufer des Telefonapparates konstruiert hatte. Der Türke und mehr noch der Mensch, der in ihm saß, steht auch im Mittelpunkt eines Romans "Der Schachautomat" von Robert Löhr. Johannes Fischer hat beides gesehen bzw. gelesen. Mehr...

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Neuigkeiten vom ältesten Schachautomaten der Welt: Kempelens Türke bleibt im Gespräch
Von Johannes Fischer

Hätte Wolfgang von Kempelen gewusst, was die Nachwelt über ihn schreiben würde, wäre seine berühmteste Schöpfung, der als Türke kostümierte Schachautomat, wahrscheinlich nie gebaut worden. Entstanden ist der Vorläufer von Deep Blue, Fritz und Shredder nach einer Wette. 1769 führte ein fahrender Zauberkünstler namens Pelletier am Hofe Maria Theresias Zauberstücke und erbauliche Maschinen vor, und die österreichische Kaiserin bat ihren Hofrat Wolfgang von Kempelen, der einen guten Ruf als Erfinder und Tüftler genoss, bei der Vorführung dabei zu sein und ein fachkundiges Urteil über die Kunst des Franzosen abzugeben. Es fiel vernichtend aus. Ja, Kempelen war über die Dürftigkeit der dargebotenen Kunststücke so erbost, dass er erklärte, in einem halben Jahr eine Maschine bauen zu können, die alles, was der Franzose gezeigt hatte, in den Schatten stellte.

Kempelen hielt Wort. Nach Ablauf der von ihm selbst gesetzten Frist präsentierte er dem kaiserlichen Hofe einen in orientalische Gewänder gekleideten Automaten, der vor einem Schachbrett saß, das sich auf einem Kasten mit komplizierten Apparaturen befand. Nachdem Kempelen sämtliche Seitentüren des Kastens geöffnet hatte, um dem Publikum zu demonstrieren, dass kein Mensch im Inneren der Maschine verborgen war, suchte er nach Freiwilligen im Publikum, die bereit waren, gegen den Automaten zu spielen. Kurze Zeit später führte der Türke die ersten Züge aus und besiegte seine Gegner ohne große Mühe. Das Publikum war begeistert, der Türke eine Sensation und ein Rätsel: Konnte die Maschine tatsächlich spielen? Manipulierte Kempelen den Türken mit magnetischen Kräften? Versteckte sich vielleicht doch ein Mensch im Inneren des Kastens? Aber wie sah er das Schachbrett, wie führte er seine Züge aus und wie klein musste er sein, um in dem engen Kasten Platz zu haben?

In den folgenden Jahren entwickelte sich Kempelens Schachautomat zu einem öffentlichen Ereignis. In zahlreichen europäischen Städten wurde er einem staunenden Publikum vorgeführt und berühmte Leute der damaligen Zeit wie Napoleon, Philidor, Benjamin Franklin und andere traten gegen ihn an. Schriftsteller wie Jean Paul und E.T.A. Hoffmann erwähnten den Automaten in ihren Werken und in zahllosen Artikeln versuchten Gelehrte und Laien das Geheimnis des Türken zu lüften. Wie der Schachhistoriker Ernst Strouhal schreibt, wurde "über keinen Automaten des 18. Jahrhunderts annähernd so viel publiziert. Ken Whylds Bibliographie aus 1994 weist mehrere hundert Einträge auf, das Wiener Kempelen Archiv umfasst, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, rund 1200 Dokumente" (Ernst Strouhal, KARL, 4/2002, S.15).

Robert Löhrs Roman Der Schachautomat

Auch heute noch fasziniert der Türke. Einen Nachbau kann man im Nixdorf-Museum in Paderborn bewundern, im Fritz 9 Programm feiert er als 3D-Animation Wiederauferstehung und nach wie vor erscheinen Bücher und Artikel zum Thema.


Nachbau des Türken im Nixdorf-Museum in Paderborn

Nach Gerald Levitts The Automaton und Tom Standages Der Türke, zwei Sachbüchern, die sich mit der Geschichte des Türken beschäftigen, erschien vor kurzem Der Schachautomat, ein Roman des Berliner Schriftstellers Robert Löhr, der munter über Kempelen und seine Maschine phantasiert. Hätte Löhr über einen zeitgenössischen Erfinder geschrieben, wäre er wohl wegen Verleumdung verklagt worden. Denn in seiner mit einer gehörigen Portion Sex&Crime gewürzten Geschichte erscheint Kempelen als besessener Erfinder, der über Leichen geht.


Robert Löhr: Der Schachautomat, Piper 2005, €19,90.

Doch Hauptfigur des Romans ist nicht der erfinderische Hofrat, sondern Tibor, ein gottesfürchtiger Zwerg mit seltener Schachbegabung, der im Inneren der Maschine sitzt und dem Automaten "Geist verleiht". Kempelen hört von Tibors Schachtalent und bietet ihm an, gegen gute Bezahlung unerkannt die Maschine zu bedienen. Eigentlich will Tibor bei dem Betrug nicht mitmachen, aber nachdem er versehentlich einen Mann erschlägt, nimmt er Kempelens Angebot an, um Verfolgung und Gefängnis zu entgehen.

Es ist kein Zufall, dass Tibor jemanden umbringt, nachdem er das erste Mal mit dem Schachautomaten in Berührung kommt. Denn in Löhrs Roman lastet ein Fluch auf dem Türken und im Laufe der Erzählung stößt jedem, der der Maschine zu nahe kommt, ein Unglück zu. Jakob, der Erbauer der Maschine, wird von dem Grafen Andrássy getötet, der seine Schwester, eine ehemalige Geliebte Kempelens rächen will. Sie starb, als sie auf einer Feier schon etwas angetrunken das Geheimnis des Türken zu energisch ergründen wollte, von Tibor und Kempelen gewaltsam daran gehindert wurde und unglücklich stürzte. Kempelen jedoch vertuschte das Unglück und warf seine noch lebende ehemalige Geliebte vom Balkon, um einen Selbstmord vorzutäuschen.

Auch ein anderer Maschinenbauer, Knaus, bedroht den Schöpfer des Türken. Knaus neidet Kempelen den Erfolg und schleust seine Geliebte als Bedienstete bei seinem Konkurrenten ein, um hinter das Geheimnis des Automaten zu kommen. Sie bandelt mit Tibor, Kempelen und Jakob an, um ihren Auftrag zu erfüllen, und als Kempelen ihr auf die Schliche kommt, hat dies dramatische Folgen, bei denen der Hofrat in keinem guten Licht erscheint, aber für spannende Momente und ein dramatisches Ende des Romans sorgt.

All das ist jedoch frei erfunden und hat mit dem wirklichen Wolfgang von Kempelen nichts zu tun. Unterhaltsam bleibt Löhrs Buch dennoch, vor allem, weil Löhr den Frankenstein-Mythos der Maschine, die ihren Schöpfer ins Unglück stürzt, mit dem Schach spielenden Automaten verknüpft. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Kempelen oder der Rolle des Automaten in der europäischen Geistesgeschichte bleibt jedoch aus und wird der Unterhaltung geopfert.


Speaking Without Lips, Thinking Without Brain: Eine Ausstellung an der Berliner Humboldt-Universität

Weniger dramatisch, aber inhaltlich präziser, befasste sich im Juli eine Ausstellung im Foyer der Berliner Humboldt-Universität mit den Apparaten Wolfgang von Kempelens. Dieses Kooperationsprojekt der Universität für Angewandte Kunst Wien, des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik und der Bundeszentrale für Politische Bildung widmete sich nicht nur Kempelens Türken sondern auch seiner Sprechmaschine, denn bei seinen öffentlichen Auftritten führte Kempelen meist beide Maschinen vor. Stets erklärte er, dass der Türke auf einem Trick beruhte, während die Sprechmaschine "echt" war. Das Publikum glaubte ihm jedoch nicht und hielt die Sprechmaschine für einen Trick, den Türken hingegen für "echt". Aber das Geheimnis des Automaten gab Kempelen nicht preis. Heute weiß man, dass ein Mensch im Inneren der Maschine steckte, der sich durch geschickt angebrachte Rollen und Spiegel verbergen konnte, wenn Kempelen bei seinen Vorführungen die Türen des Automaten öffnete.

Aber anders als Löhrs Buch suggeriert, war der Erbauer des Türken weder Betrüger noch Scharlatan oder Zauberkünstler, sondern ein ehrenhafter und fleißiger Beamter am Hofe Maria Theresias. Im Auftrag der Kaiserin übersetzte Kempelen den Codex Maria Theresias aus dem Lateinischen ins Deutsche und organisierte die Neubesiedlung des Banat, eines zwischen Donau, Theiß und Marosch gelegenen Gebiets, das durch Kriege und Katastrophen weitgehend entvölkert war. In seiner Freizeit schrieb er Gedichte und Theaterstücke und versuchte sich als Erfinder.


Dabei lag dem Hofrat trotz der großen Popularität des Türken, die ihm ungeahnten Ruhm bescherte, eine andere seiner Maschinen sehr viel mehr am Herzen: die Sprechmaschine. Mit ihr hoffte Kempelen die menschliche Stimme imitieren zu können, um Menschen, die nicht sprechen konnten, eine Möglichkeit zu geben, sich zu artikulieren.

Die Sprechmaschine

Mehr als zwanzig Jahre arbeitete Kempelen an dieser Maschine, aber am Ende konnte sie zwar ein paar Laute "sprechen", war aber weit von dem entfernt, was ihr Erfinder erhofft hatte. Damit andere seine Arbeit fortsetzen konnten, veröffentlichte Kempelen ein Buch über Funktionsweise und Konstruktion seiner Erfindung. Doch niemand nutzte diese Bauanleitung und die Sprechmaschine geriet bald in Vergessenheit – genau wie der Türke. Nach Kempelens Tod im Jahre 1804 verkaufte sein Sohn den Türken an den Schausteller Maelzel, der den Automaten in seine Vaudeville-Vorführungen integrierte, und bald danach wanderte die einst so bewunderte Schachmaschine ins Museum, wo sie 1854 einem Brand zum Opfer fiel.


Jakob Scheids Black Box

Die Ausstellung an der Berliner Humboldt-Universität erinnerte an beide Automaten. Ihr Kernstück war die so genannte "Black Box": Sie enthält einen Nachbau der Sprechmaschine nach den Anweisungen von Kempelens und einen Greifarm mit magnetischem Schachspiel, der die Funktionsweise des Türken imitiert. Gebaut wurden beide von dem Österreicher Jakob Scheid, der die Maschinen bei der gut besuchten Eröffnungsveranstaltung vorführte. Dabei wurde der Mechanismus des Türken mit interessierter, aber ruhiger Neugier aufgenommen, während das geseufzte "Mama" und "Papa" der Sprechmaschine für Heiterkeit sorgte.

Der Greifarm des Türken


Utensilien im Inneren der Black Box

Außerdem zeigte die von der Historikerin Anita Hermannstädter betreute und von Ernst Strouhal und Brigitte Felderer konzipierte Ausstellung Exponate zur Geschichte des Türken und zu den Versuchen der Menschen, Maschinen zu schaffen, die sprechen können. Wie Anita Hermannstädter erklärte, "knüpft die Ausstellung an die Tradition der Salonexperimente im 18. Jahrhundert an und steht mit dem Versuch, wissenschaftliche Erkenntnis öffentlich zu machen, in der Tradition besten akademischen Denkens".

Der 36-Seiten starke, als Leporello aufwendig gestaltete Katalog zur Ausstellung stammt von Brigitte Felderer und Ernst Strouhal (Brigitte Felderer, Ernst Strouhal: Kempelen - Zwei Maschinen, Sonderzahl Verlag Wien 2004, €29,00). Der Katalog umreißt noch einmal Geschichte und Funktionsweise des Türken und der Sprechmaschine, skizziert das Leben Kempelens und verweist auf die kulturgeschichtliche Bedeutung der beiden Automaten. Er bildet ein angenehmes Korrektiv zur Phantasie des Romanautors Löhr und illustriert die anhaltende Faszination, die von Sprechmaschine und Schachautomaten ausgeht.


Die Hauptperson: Der erste Schachautomat der Welt

Links:

Eine flexible Geschichte: Ernst Strouhal schreibt im KARL über den Türken...

Der erste Schachcomputer war keiner: Die Geschichte des Türken bei ChessBase...

Heinz Nixdorf MuseumsForum ...

Der Türke bei ZDF-Aspekte...

Zum Humboldt-Forum...

 

 

 

 

 


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