Das Interview erschien im Original bei Neues Deutschland.
Nachdruck mit Genehmigung des Autors.
Jamaika-Trick auf Chinesisch
Mit einer Schachvariante aus Fernost gegen das Remisunwesen im
Westen
Von Dr.
René Gralla
Hand auf’s Herz:
Fast jeder Amateur ist mit einer leicht größenwahnsinnigen Vision gestartet –
einmal Champ zu sein in seinem Lieblingssport. Das bleibt meist nur ein
heimlicher Wunsch, es sein denn, man kopiert den „Jamaika-Trick“. Das war der
Plot einer sehr erfolgreichen Kinokomödie vor wenigen Jahren: Ein paar Freunde,
die in Kingston von Olympia träumen, melden sich für die Winterspiele – und
starten dort mit einem Bob, in den Nationalfarben ihrer Karibikinsel. Ein
findiger Schweizer adaptiert das Jamaika-Prinzip jetzt für den Denksport: Beat
Sprenger aus Zürich, dessen Karriere im üblichen Schach um Dame und König nicht
richtig von der Stelle kam, hat die chinesische Variante Xiangqi in die
Eidgenossenschaft importiert. Zuerst als One-Man-Show: Der angehende
Wirtschaftsinformatiker war zugleich Gründer des Schweizerischen
Xiangqi-Verbandes, SXV-Präsident und einziges Mitglied in Personalunion – und
nebenbei noch die selbst ernannte Nr. 1 zwischen Genf und Appenzell. Inzwischen
aber nimmt die Sache Formen an: An einem Spätherbstsonntag im November
vergangenen Jahres haben die Uhren wie losgelassen getickt bei der zweiten
„Schweizermeisterschaft 2004“ in Wettingens alter Spinnerei, rund 30 Autominuten
von Zürich entfernt.
Mittlerweile
steuert Beat Sprenger im Xiangqi sogar die WM-Teilnahme 2005 an; und
wie er das geschafft hat – übrigens unter freundschaftlicher Nachbarschaftshilfe
aus Deutschland - , das hat sich der Autor Dr. René Gralla vom 26-jährigen
Wahl-Chinesen erklären lassen. Und
Beat Sprenger hat
gleich auch Vorschläge, was sich vom Xiangqi lernen lässt, um das Westliche
Schach zu reformieren.
Herr Sprenger, in
der Schweiz kraxelt man auf Almen oder läuft Ski. Warum wollen Sie ausgerechnet
das Chinaschach in die Schweiz bringen?
Das normale Schach
ist schön, aber zu langsam. Nachdem ich beim Surfen im Internet die Alternative
Xiangqi entdeckt habe, versuche ich nun, diese asiatische Schachvariante auch in
meiner Heimat bekannt zu machen.
Die Anfänge waren
allerdings mühsam. Sie sind gleichzeitig Erfinder des Schweizerischen
Xiangqi-Verbandes und Präsident Ihres SXV gewesen – und riefen sich obendrein
provisorisch zum Meister der Eidgenossenschaft aus. Gab es wegen dieser Ämter-
und Titelhäufung Proteste aus den übrigen Sportverbänden?
Nein, nein, eben
nicht. Obwohl das eigentlich das Ziel gewesen ist …
… Ihre gezielte
Provokation sollte also Aufmerksamkeit erregen …
… ja, ich hoffte
darauf, dass jemand kommt und sagt: „Nein, das stimmt nicht, ich bin ja der
Schweizer Meister im Chinesischen Schach.“ Aber zunächst hat mir niemand den
Titel streitig gemacht.
Damit wollten Sie sich aber nicht abfinden – und luden die Xiangqi-Fans zur
ersten Bundesmeisterschaft. Allerdings nicht nach Zürich, sondern ins deutsche
Hockenheim. Warum dieser ungewöhnliche Umweg über das Nachbarland?
Die
deutsche Chinaschach-Szene ist im Vergleich zur Schweiz schon etabliert und ein
großes Vorbild. In Mannheim leitet der gebürtige Vietnamese Cuong Truong einen
sehr aktiven Verein, von dort hat es deswegen auch die ersten Reaktionen auf
meine Website gegeben. Und so organisierten dann die Mannheimer im Spätsommer
2003 für mich ein Turnier, das zugleich auch als erste Schweizer Meisterschaft
ausgeschrieben wurde.
In
der Gründungsmeisterschaft belegten Sie Platz eins – obwohl Sie Letzter wurden.
Das müssen Sie uns erklären!
Außer mir
ist kein Schweizer nach Hockenheim gereist. Da die übrigen Turnierteilnehmer
Nicht-Schweizer waren, konnten die logischerweise auch nicht Schweizer Meister
werden. Also habe ich mangels Konkurrenz meinen Titel verteidigt.
Eine
richtige Schweizer Meisterschaft quasi als Auswärtsspiel – und dann auch noch in
Deutschland. Hat denn das kein böses Blut gemacht? Wegen verletzter nationaler
Gefühle?
So nicht,
nein. Tatsächlich hat das Turnier in Hockenheim nur Positives in Bewegung
gesetzt: Mittlerweile haben sich neue Interessenten für das Xiangqi gemeldet –
und die sind beinahe ein bisschen ehrfürchtig, dass ich schon mal in Deutschland
ein Turnier gespielt habe. Das ist vielleicht ein wenig so, wie wenn ein
Fußballer nach Italien wechselt.
Und
in Wettingen 2004 sogar die sensationelle Steigerung der Titelanwärter bei der
zweiten Schweizer Meisterschaft – um schier unglaubliche 1200 Prozent.
Genau.
Sieben Leute hatten sich bereits im Vorfeld angemeldet, am Ende sind es dann
sogar 12 geworden. Wir haben aber auch viel Werbung gemacht in asiatischen
Lebensmittelgeschäften und chinesischen Vereinen: mal schauen.
Sie
selber haben Ihren Titelgewinn von 2003 in Wettingen 2004 nicht wiederholen
können. Sind Sie enttäuscht?
Enttäuscht
nicht, nein. Das ist für mich eben ein Ansporn, die diesjährige Meisterschaft
2005 zu gewinnen. In Wettingen ist es für mich eben nicht einfach gewesen,
gleichzeitig das Turnier zu organisieren, Schiedsrichter zu sein und obendrein
selber noch um den Titel zu spielen. Deswegen hoffe ich, dass auch mal jemand
anders ein die Organisation übernimmt.
Sie
haben eingangs erwähnt, dass die chinesische Variante schneller sein soll als
das bei uns altbekannte Schach. Woran liegt das?
Das ist
vor allem eine kulturelle Frage: Das Xiangqi stammt aus Asien, und die Chinesen
spielen von Haus aus einfach schneller. Sie prägen entsprechend den Stil des
Denksports - und der Rest der Welt zieht nach. Zumal niemand die großen Chinesen
schlagen kann: Gegen die Chinesen hat man auch dann nicht mehr Erfolg, wenn man
sich deutlich mehr Bedenkzeit am Brett nimmt. Außerdem ist die Anlage des
Xiangqi erheblich dynamischer als das westliche Schach: Bereits die
Anfangsstellung ist sehr offen, die Gegner können nicht mauern, sondern müssen
voll auf Angriff setzen. Nicht zu vergessen: Das Xiangqi-Brett hat mehr Felder –
nämlich 90 im Gegensatz zu den 64 Feldern im bekannten Schach – für die selbe
Anzahl von jeweils 32 Steinen für Weiß und Schwarz zusammen genommen; da können
die Figuren im Chinaschach viel freier operieren.
Last
not least kennt das Xiangqi-Arsenal noch eine modern anmutende Waffe, die Kanone
…
… exakt,
und die Kanone ist richtig spannend: Sie springt hin und her über das Feld, und
sie kann nicht nur nach vorne, sondern auch rückwärts zuschlagen. Und
überraschend eine Figur erwischen, die man gar nicht mehr im Auge hat.
Aktuell wird wieder über die Krise im Westlichen Schach diskutiert: zu
langweilig, zu viele Unentschieden – gerade nach dem Remisgeschiebe während des
WM-Kampfes zwischen Wladimir Kramnik und Peter Leko im Herbst 2004 in Brissago.
Könnten sich die Reformer da Tipps aus China holen?
Ja. Vor
allem, weil zwei Arten des Unentschieden im Xiangqi ausgeschlossen sind: Das
Patt ist kein Remis, sondern verloren für denjenigen, der sich nicht mehr
bewegen kann und Patt ist; ferner rettet die dreimalige Zugwiederholung, zum
Beispiel durch Schachgebote hintereinander, keine Punkteteilung. Danach muss
sich der Angreifer eben etwas Neues einfallen lassen – oder sein Gegner hat
gewonnen. Das prägt die Haltung am Brett: Wenn weniger Remismöglichkeiten
zugelassen sind, dann ist es auch weniger üblich, sich auf Remis zu einigen.
Wenn es nicht Kultur ist, dass man häufig und schnell Remis macht, dann kann man
nicht der Erste sein, der der große Spielverderber ist und als erster
Unentschieden anbietet. Ergebnis: Im Chinesischen Schach sind Remisschlüsse die
große Ausnahme.
Außerdem kämpfen Chinesen am Brett jede Partie aus. Das ist Ehrensache: Selbst
wenn sie eine Figur weniger haben, geben sie nicht gleich auf.
Das ist
auch ein Punkt. Wenn man im Westlichen Schach in einer Partie nicht so gut
manövriert und zum Beispiel bereits ein Pferd weniger hat, dann hat man
eigentlich praktisch schon verloren – sofern die Stellung nicht wahnsinnig
besser ist. Aber wenn man im Chinesischen Schach ein Pferd weniger hat, soll man
ruhig weiterspielen: Das Blatt kann sich noch wenden.
Die
Besonderheiten des Xiangqi – insbesondere, dass Patt und Zugwiederholungen kein
Unentschieden nach sich ziehen - : Sollte man die für das Westliche Schach
übernehmen, um wenigstens einen Teil der Remismöglichkeiten auszuschließen?
Grundsätzlich keine schlechte Idee. Allerdings muss man vorher natürlich genau
abklären, ob das mit der Struktur und den sonstigen Regeln des FIDE-Schachs
kompatibel ist.
Sofern die Reform nicht vorankommt: Sollten Leute, die über die Verflachung des
Westlichen Schachs jammern, mal die Alternative Chinesisches Schach
ausprobieren?
Ja. Selbst
wenn im Xiangqi momentan noch die materiellen Anreize wie im Westlichen Schach
fehlen: Es gibt keine hohen Preisgelder.
Dafür gibt es aber einen immateriellen Anreiz: Da im Westen nicht so viele
Menschen Xiangqi spielen, kann jemand quasi aus dem Stand in der Nationalauswahl
landen. Und bei der nächsten WM starten, die interessanterweise ab Ende Juli
2005 in Paris stattfinden soll – und damit übrigens zum ersten Mal außerhalb von
Asien.
Richtig.
Wollen Sie bei der WM mit einer eidgenössischen Delegation antreten?
Ich plane
das. Vorher müssen wir aber noch dem Weltxiangqiverband WXF beitreten. Und
suchen einen Sponsor – für die 500 Euro Mitgliedsbeitrag.
Falls ein Spieler vom Westlichen Schach zum Xiangqi wechseln will: Ist das
verwirrend, wegen der anderen Optik und der teilweise unterschiedlichen Regeln
für die Figuren?
Nein,
überhaupt nicht. Das, was vielleicht am meisten abschrecken könnte, ist die
Besonderheit des Xiangqi, dass anstelle von Figuren mit runden Plättchen
gespielt wird; chinesische Schriftzeichen geben die unterschiedlichen Kampfwerte
an. Aber das hat man schnell gelernt.
Obendrein lassen sich doch die Züge dieser Steine nicht 1:1 vom Westlichen
Schach ableiten und direkt auf das Xiangqi übertragen?!
Korrekt.
Trotzdem kann man Xiangqi viel besser lernen, wenn man bereits vorher Westliches
Schach gespielt hat.
Verwirrt das denn nicht, wenn anstelle des Läufers ein Elefant über das Brett
turnt?
Nein.
Sicher, anfänglich gibt es kleine Verwirrungen: dass man die Bauern nicht
blockieren kann, weil sie im Xiangqi nicht schräg seitlich schlagen, sondern
vorwärts – so dass man in eine böse Falle tappen kann, falls man einen
chinesischen Wagen, der dem westlichen Turm entspricht, direkt vor einen Bauern
stellt; denn der Bauer kann den Wagen einfach aus dem Spiel werfen, und alles
ist aus. Aber das sind Kleinigkeiten, die man beim Fehlermachen lernt – und dann
nie mehr vergisst. Ansonsten kriegt man das Chinaschach nach dem
Eselsbrücken-Prinzip drauf: Entweder sind die Züge einer Xiangqi-Figur mit dem
westlichen Gegenstück identisch – wie beim erwähnten Wagen und seinem
FIDE-Verwandten, dem Turm - , oder sie sind leicht abgewandelt. So dass man sich
die Regel gerade aus dem Gegensatz zum westlichen Schach merkt - wie beim Pferd:
Das bewegt sich vom Prinzip her wie ein Springer, kann aber über einen
blockierenden Stein gerade nicht hüpfen.
Chinesische Kinder lernen Xiangqi sehr früh. Meist mit fünf oder sechs Jahren,
erst später wechseln sie zum Westlichen Schach. Entsprechend ist schon behauptet
worden, dass die Chinesen im westlichen Schach deswegen in den letzten Jahren so
stark geworden sind, weil die Asiaten quasi flächendeckend Xiangqi spielen. Ist
da was dran: Wird man besser im westlichen Schach durch Chinaschach?
Das glaube
ich schon. Woran das liegt, kann ich nicht genau erklären. Ich vermute, dass man
mehr abstrahiert, wenn man sich zusätzlich mit Xiangqi beschäftigt. Nehmen wir
die Leibwächter des Königs: Die sind historisch gesehen Vorläufer der Dame, sind
in ihrer Beweglichkeit aber stark eingeschränkt. Sie sind allein dafür da, den
König in der zentralen Zone, dem Palast, zu verteidigen – den weder König noch
Leibwächter verlassen dürfen; außerdem ziehen diese Mandarine, wie sie auch
heißen, im Palast bloß ein Feld schräg. Indem der Spieler das aber weiß –
während ihm gleichzeitig eben bewusst ist, dass diese Leibwächter trotz aller
großen Unterschiede der Dame im westlichen Schach korrespondieren - , entsteht
eine neue Abstraktionsebene. Das trainiert den Spieler, genauer zu analysieren –
und das hilft dann indirekt wieder beim Westlichen Schach.
So
dass es einem in Fleisch und Blut übergeht, einfach genauer hinzusehen – weil
man, wenn man Xiangqi und Westliches Schach parallel betreibt, sich eben nicht
mehr darauf verlassen kann, quasi „blind“ zu erkennen, was in einer konkreten
Situation auf dem Brett gerade droht?
Genau.
Wenn
ein Spieler Xiangqi und Westliches Schach gleichzeitig pflegt: Ist das mit dem
Mathe-Unterricht in der Schule zu vergleichen? Dort lernen die Schüler, wenn sie
fortgeschritten sind, erst simples Rechnen, später Algebra, Geometrie und
Vektorrechnungen; nur wenn sie verschiedene Zweige der Mathematik betreiben,
kommen sie weiter. Das wirkt wie ein Gehirnjogging – und das gilt vielleicht
auch im Schach?! Erst kennt man nur die eine Variante, dann aber lernt man
Xiangqi – und plötzlich rattert es wie geölt im Schädel, viel schneller, als
wenn man bloß auf eine Variante fixiert ist?
Das ist
sicher so. Und hinterher kommt man auch mit der alten Variante besser klar, mit
dem Westlichen Schach. Das Xiangqi gibt neue Impulse, die zu frischem Denken
auch im bekannten Schach befähigen.
Wie
oft trainieren Sie Xiangqi?
Pro Woche
ungefähr drei Stunden.
Hat
Ihre Freundin schon Chinaschach gelernt?
Nein. Sie
findet Xiangqi okay – so lange ich nicht ausschließlich Chinesisches Schach
spiele. Manchmal sagt sie sogar, dass sie auch mal Xiangqi lernen will – aber da
glaube ich doch nicht so recht dran.
Das älteste Schach –
ist das schnellste Schach
Dynamisch und spannend, so sei das Xiangqi;
deswegen könne man das als echte Alternative zum hierzulande üblichen
Mehrheitsschach betrachten. Das sagt
Beat Sprenger, Mastermind der wachsenden Asia
Chess-Community in der Schweiz. Schauen wir uns an, ob die Realität am Brett
eine derart enthusiastische Einschätzung rechtfertigt.
Die erste Konfrontation mit einem Xiangqi-Brett
ist für viele Interessierte oft jedoch eine herbe Enttäuschung: Wenn der Neuling
dann vor der Startposition steht - erkennt er zunächst gar nichts: bloß runde
Plättchen mit rätselhaften Zeichen.
Wo sind denn bloß
die sagenhaften Elefanten, Kampfwagen und Kanonen geblieben? Eine berechtigte
Frage - aber der Antwort kommen wir näher, sobald wir uns anschauen, wie sich
die Lage auf dem 90-Schnittpunkte-Brett darstellt, nachdem die Symbolsteine und
deren chinesische Namen in die korrespondierende Optik nach dem Design des
Staunton-Schachs transformiert worden sind.
Plötzlich wird
deutlich, dass Chinaschach tatsächlich zur Schachfamilie gehört - auch wenn die
Züge vieler Figuren keine 1:1-Übersetzungen der entsprechenden Möglichkeiten
ihrer Gegenstücke aus dem FIDE-Chess sind. Aus dem Morgennebel Asiens
aufgetaucht sind überdies die beiden roten Kanonen (auf den Positionen b3 und
h3) sowie die zwei schwarzen Geschütze (b8 und h8; ausnahmsweise werden hier die
Anfangsstellungen aus der Blickrichtung des Nachziehenden abgebildet).
Und der Rest der
Xiangqi-Clique - Elefanten, Mandarine pp. - samt deren Playground (Paläste und
Fluss) lässt sich identifizieren nach einer Transformation des Xiangqi-Szenarios
in ein Setting, das die tatsächliche Dimension des Geschehens einer Partie
plastisch macht.
Aha, da trompeten
sie: die Elefanten auf c1 & g1 (Rot) bzw. c0 und g0 (Schwarz); die insgesamt
vier Mandarine (hier Symbolsteine für die notorisch intriganten Großohrenträger)
auf d1 & f1 (Rot) bzw. d0 und f0 (Schwarz) scharen sich um die zwei Generäle
(Rot: auf e1; Schwarz: auf e0), die, dem heftigen Geschehen am Huanghe
angemessen, beide einen Helm tragen. Auf den Einsatzbefehl warten - in den
bekannten Turmpositionen - die Kampfwagen a1 & i1 (Rot) respektive a0 & i0
(Schwarz). Die zentralen Festungszonen heben sich vom übrigen Gelände an; durch
die Mitte des Theatre of Operations fließt breit und träge der Huanghe. Gut zu
erkennen sind die Sandbänke an den Furten zwischen den Geländepunkten a5 & a6,
b5 & b6, c5 & c6, d5 & d6, e5 & e6, f5 & f6, g5 & g6, h5 & und h6 und i5 & i6.
Nein, die
Fans des Xiangqi haben doch nicht zu viel versprochen - das Battlefield of
Xiangqi ist wirklich schön plastisch. Schauen wir uns also an, was im Quadranten
a1-i1-i0-a0 alles passieren kann; dafür hier zunächst eine Zusammenfassung der
Regeln.
Das
Xiangqi-Brett weist deutliche Ähnlichkeiten zu einem Schachplan auf, mit zweimal
36 Feldern, die durch den Grenzfluss Huanghe voneinander getrennt werden. Die
Xiangqi-Steine ziehen aber gerade nicht von Feld zu Feld, sondern von
Schnittpunkt zu Schnittpunkt der Vertikalen und Horizontalen (sowie ggf.
Diagonalen).
Die
zweimal fünf Soldaten – Abk.: >>B*<< – ,
insofern jeweils drei weniger pro Partei (bezogen auf das FIDE-Chess), ziehen
wie Bauern jeweils einen Schnittpunkt vorwärts, starten aber bereits von Reihe 4
(Rot) bzw. 7 (Schwarz) aus. Die Soldaten schlagen aber, wie sie ziehen – das
heißt: ausschließlich vorwärts, wenn sie den Fluss noch nicht überschritten
haben (wie westliche Bauern dürfen sie nicht rückwärts marschieren), und in
beide Richtungen seitwärts nach Querung des Huanghe. Diese zusätzlichen
Zugmöglichkeiten – horizontal auf dem Ufer des Gegners (und zwar hin und her,
abhängig von den Entscheidungen der Spieler in der konkreten Gefechtslage) –
sind die Kompensation dafür, dass das Xiangqi keine Promotion kennt, sofern die
Soldaten die feindliche Grundreihe (im Xiangqi die Laterale Nr. 10/Rot
respektive 1/Schwarz) erreicht haben. Dort können die Infanteristen fortan bloß
noch lateral hin und her ziehen und gelten deswegen als müde „alte“ Soldaten.
Die zweimal zwei
Wagen pro Partei bewegen sich wie westliche Türme - wir kürzen sie hier
deswegen, um die Vergleichbarkeit zum bekannten Schach zu zeigen, mit >>T<<
ab.
Auch die zweimal
zwei Pferde attackieren und retournieren wie Springer in Rösselsprung-Manier,
allerdings mit einer Einschränkung: Sie können nicht springen. Falls nämlich der
direkt vor einem Gaul liegende Schnittpunkt (bezogen auf die Richtung, in die
das Pferd galoppieren will) von einem eigenen oder fremden Stein besetzt
gehalten wird, ist der Hengst blockiert. Da die Pferde deswegen einerseits den
Schach-Springern sehr stark ähneln, andererseits sich aber doch von ihnen
unterscheiden, werden sie nachfolgend mit >>S*<< abgekürzt.
Kein Gegenstück im
westlichen Schach kennen die zweimal zwei Geschütze – Abk.: >>G*<< – :
Die Kanonen ziehen, wenn sie nicht schlagen, wie die Turm-Wagen. Wollen die
Haubitzen aber einen feindlichen Stein beseitigen, benötigen sie als so genannte
„Rampe“ einen weiteren Stein von fremder oder eigener Farbe, der zwischen
Artilleriewaffe und angegriffenem Stein steht und über den diese sehr modern
anmutende Cannon, einem Helicopter-Gunship nicht unähnlich, fliegend hinwegsetzt
– analog der Art, wie im Damespiel geschlagen wird.
Wagen, Pferde und
Soldaten können an jeder Furt den Gelben Fluss überschreiten; nicht dagegen
Elefanten, Mandarine und Könige. Die zweimal zwei Elefanten dürfen nur bis zum
Flussufer stampfen; dennoch sind die Rüsseltiere Vorgänger der modernen Läufer,
weil sie in der Anfangsstellung die gleichen Positionen wie Diagonal-Bishops
einnehmen und sich ausschließlich über die Schrägen fortbewegen. Allerdings
zieht ein Elefant von dem Punkt, auf dem er postiert ist, allein zwei
Schnittpunkte weiter, diagonal bis zum übernächsten Wegkreuz.
Ist auf der Bewegungsschräge die Position dazwischen von einem eigenen oder
fremden Stein besetzt, ist dem Dickhäuter dieser Weg verbaut. Konsequenz: Die
roten Elefanten können nur die Punkte a3/c1/c5/e3/g1/g5/i3 erreichen; die
schwarzen Artverwandten die Positionen a8/c0/c6/e8/g0/g6/i8.
Abkürzung aufgrund der schachhistorischen Nähe zum
Läufer: >>L*<<.
Was König
und Mandarine angeht, so sind diese Figuren beschränkt
auf die Sonderzonen d1-d3-e3-f3-f1-e1 (roter Palast) bzw. d0/d8/e8/f8/f0/e0
(schwarzer Palast). Der König – Abk.: >>K*<< – schreitet gemessen und
zeremoniell exklusiv horizontal und vertikal durch die Szene, und zwar jeweils
einen Schnittpunkt pro Zug; er darf – anders als der FIDE-König – sich nicht
diagonal in die Büsche schlagen geschweige denn den Palast verlassen. Die
Zuweisung der zentralen Zone als eine Art Zwangs-Arrest kann als obligatorische
Rochade angesehen werden – aber leider eben in der Mitte des Brettes. Als
Kompensation setzt der König, sofern sich eine Chance dafür bietet, eine
laserwaffenartige Fernwirkung gegenüber dem gegnerischen Monarchen ein; hat der
Herrscher nämlich eine offene, durch keinen weiteren Stein besetzte Senkrechte
besetzt, sperrt er sie damit für den hochwohlgeborenen Amtsbruder Feind - weil
seine so genannte „Telepotency“ (auf Deutsch auch „Todesblick“ genannt) diese
Linie zur No-go-area für den anderen König macht.
Anstelle einer
Solo-Dame wissen die Xiangqi-Könige gleich zwei Begleiter an ihrer Seite. Das
sind die Mandarine – Abk.: >>D*<< -, die im Palast auf eigens dafür markierten
Diagonalen jeweils einen Schnittpunkt vorwärts oder rückwärts trippeln, bückeln
und dienern.
Total realitätsnah - Helicopter-Gunships fliegen ein
Wie modern und rasant das Chinaschach ist, das lässt sich
vor allem mit den Kanonen demonstrieren. Die Xiangqi-Artillerie wirkt beinahe
futuristisch; denn sie nimmt
auf dem Brett eine technologische Entwicklung vorweg, die zu
dem Zeitpunkt, als die Geschütze dem Xiangqi-Arsenal
hinzugefügt worden sind,
nämlich um 840 nach Christus, eigentlich noch gar nicht bekannt gewesen sein
konnte: das Helicopter-Gunship,
das seit dem Vietnamkrieg die Rolle einer fliegenden Kavallerie spielt. Schlägt
nämlich ein schwerer Mörser über die entsprechende Rampe - und auf diese Weise
virtuell eine ballistische Kurve nachbildend - gegen einen feindlichen Stein zu,
so wird das getroffene Stück nicht nur aus dem Spiel entfernt, sondern die
Haubitze besetzt die entsprechend freigeschossene Position: Sie donnert also von
oben herab und quasi aus den Lüften heran.
Damit sind
die Xiangqi-Kanonen nichts anderes als
fliegende Kanonen, die es den Xiangqi-Spielern am Brett ermöglichen,
schnell zur Sache zu kommen.
Wie das
geht, demonstriert unser Interviewpartner Beat Sprenger
anlässlich eines
Zweier-Turnierchens 2004 am 4. Juni 2004 an der ETH Zürich.
Le Sire de Legal
en route à la Chine
Die
folgende Chinaschach-Partie weist in ihrer Schlussposition deutliche
Ähnlichkeiten zum berühmten Matt des Legal auf: ein zentraler Blitzdurchbruch,
den der Lehrer von Philidor und seinerzeitige Maître des Pariser „Café de la
Régence“, Monsieur Kermur Sire de Legal (1702 – 1792), in seiner reinsten und
knappsten Form bereits 1750 gegen einen N.N. exekutiert hat.
Weiß:
De Kermur,
Sire de Legal
Schwarz:
Saint Brie
Paris, 1750, "Café de la Régence"
Philidor
1.e4 e5 2.Sf3 d6
3.Lc4 Lg4(?)
Besser war
z.B. 3.... Le7 mit Übergang in die Ungarische Partie.
4.Sc3 g6?
Schwarz
möchte offenbar, da der Läufer wegen des Blockadebauern d6 nicht ins Spiel
gelangen kann, die Figur durch 5.... Lg7 entwickeln. Dazu kommt es aber nicht
mehr:
5.Sxe5! Lxd1??
"Ein
grober Fehler", wie Georges Renaud und Victor Kahn zutreffend in ihrem
Lehrbuch "Der erfolgreiche Mattangriff" (Verlag "Das Schach-Archiv",
Hamburg 1969) auf Seite 16 resümieren. "Schwarz übersieht die Drohung und stürzt
übereilig auf die Dame, ohne zu begreifen, dass Weiß nicht ohne Grund die Dame
opfert." Renaud & Kahn geben als "das kleinere Übel" an: 5.... dxe5 6.Dxg4
...: "Weiß gewinnt die Figur zurück, besitzt einen Mehrbauern sowie einen
entscheidenden Entwicklungsvorsprung" (Mattangriff, S. 16).
6.Lxf7+ Ke7
7.Sd5# 1:0
Zunächst aber sehen wir 254 Jahre später den
Ur-Enkel des Wilhelm Tell am Werk.
Rot: Beat Sprenger, Zürich/Switzerland
Schwarz: N.N., Switzerland
4. Juni 2004, ETH Zürich/Switzerland
Central Cannon Opening
1.G*he3 …
Seit Jahrhunderten der
Anfangszug eine Xiangqi-Partie: - mit der Kanone gleich ab in die Mitte.
1… S*g8 2.S*g3 c6 3.Th1
G*c8
Liebäugelt mit dem roten Bauern
c4: kein wirklich überzeugendes Konzept, wie sich rasch herausstellt.
4.g5 G*h0(?)
Weiter nach – falschem – Plan:
Schwarz möchte den roten B*c4 verspeisen. Da sofort 4….G*xc4???
selbstverständlich mit 5.Txh8 … abgestraft wird, manövriert er sein linkes
Geschütz auf die doppelt gedeckte Position h0 (durch S*g8 und Ti0). Eine
Fehlentscheidung: Die Kanone steht hier falsch, blockiert überdies den eigenen
Wagen i0, und …
5.S*f5 …
… während sich jetzt bereits
der wichtige schwarze Zentralsoldat B*e7 nicht mehr halten lässt …
5…. G*xc4
… nimmt der Nachziehende an,
dass das doch kein Problem sei; schließlich pulverisiert er doch dafür die linke
Flankenkompanie der Sprenger’schen Infanterie. Ein tödlicher Irrtum.
6.S*xe7 S*xe7 7.G*xe7 …
Eine Kanone in Angriffstellung
direkt vor dem offenen Hauptportal des Palastes: Da kann der Verteidiger fast
schon einpacken …
7…. G*xi4
… aber der Senner-Sepp N.N. hat
ein sonniges Gemüt, was soll denn schon passieren … (?!?!?) … sackt auch noch
den roten B*i4 ein, und wähnt sich womöglich bereits vorn - mit einem
Mehrbauern.
8.G*b5 …
Aber nix da – jetzt droht Beat
Sprenger mit dem notorischen Doppelkanonenmatt 9.G*be5#.
8…. K*e9!
Immerhin, er hat’s gesehen –
und versucht die Flucht nach vorn. Damit kommt ein Chinese Chess-King freilich
nicht weit – in seinem kleinen Käfig, der ziemlich euphemistisch Palast heißt.
9.Ta3!…
Ein typischer Turm-Aufzug im
Xiangqi: Danach greift die Schwerfigur über die dritte Reihe in die Schlacht ein
– Rot droht 10.G*be5+ … und 11.Td3+ … oder 11.Tf3+ … plus Matt. Das Manöver
lässt sich entsprechend nicht selten auch bei Spitzenspielern aus dem Fernen
Osten beobachten, wenn diese nach ihrer ersten Begegnung mit Schach in der Form
des Xiangqi zur westlichen Variante überwechseln.
Ein typisches Beispiel
ist das erste Tiebreak-Match zwischen Peng Zhaoqin und Alexandra Kosteniuk um
die Damen-EM 2004 in Dresden: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 dxc4 5.e3 a6 6.a4
c5 7.Lxc4 Sc6 8.0-0 Le7 9.Dd3 0-0 10.Td1 cxd4 11.exd4 Sb4 12.De2 b6 13.Se5 Lb7;
und jetzt überrascht die gebürtige Chinesin aus den Niederlanden mit
14.Ta3?! …
Peng besitzt eine Vorliebe für
ungewöhnliche Turmmanöver“, schreibt dazu der Kommentator des österreichischen
Fachmagazins „Schach-Aktiv“ (Ausgabe 5/2004, S. 251); ein Mut zur Kreativität,
der sich dann aber leider in Dresden nicht ausgezahlt hat (die Kommandeurin der
weißen Armee muss nach dem 33. Zug von Schwarz kapitulieren) – während 9.Ta3! …
im Xiangqi-Match B.Sprenger vs. N.N. deutlich besser abschneidet.
9…. S*c8
Will das Geschütz e7
vertreiben, nützt aber nichts mehr.
10.G*be5+! …
Trotzdem: Schwarz kann nicht
mit 10….S*xe7 reagieren, denn es spielt keine Rolle, ob auf e7 eine rote Kanone
oder ein schwarzes Pferd als Rampe für das Schach der rückwärtigen Haubitze e5
stehen. Folglich bleibt nur ein Fluchtversuch:
10…. K*f9
11.Th9+ …
Das sofortige 11.Tf3+ … hätte
einen Zug schneller das Matt erzwungen.
11…. K*f8
12.Tf3+ …
Nun könnte „Schwarz … noch die
Kanone dazwischenstellen“ – mit 12…. G*f4 -, wie Beat Sprenger auf seiner
Homepage unter
www.sxv.ch/partie1.php
resümiert, aber „danach ist fertig!“ Exakt: 12…. G*f4 13.Txf4#.
Logischerweise:
12…. Aufgabe. 1:0
12 Züge für eine
Meisterschaftspartie: Das ist eben Chinaschach. Und die Schlussposition erinnert
ein wenig an das Matt des Legal: mit der Mischung aus feindlichem König, der in
der Mitte feststeckt, und einem derben Dreierpack – zwei Leichtfiguren, die
springen können (im Xiangqi die beiden Kanonen ; im
FIDE-Chess das thematische Springerpaar e5/d5) plus durchschlagender Fernwaffe
(im Xiangqi der Wagen , im FIDE-Chess der Läufer f7).
Ganz putzig ist folglich ein
Vergleich mit einem Legal-Matt aus der jüngsten FIDE-Praxis.
Weiß: Dr. René Gralla,
Hamburg/Germany
Schwarz: Massoud Amini, Hamburg/Germany
2. November 2004, 5-Minuten-Blitzpartie, Trainingswettkampf Hamburg/Germany,
Bar-Café „Roxy“
Sizilianisch
1.e4 c5
2.Sc3 …
Die geschlossene Variante –
ziemlich zügig wird die hier allerdings auch reichlich zugig!
2…. Sc6
3.Sf3 e5 4.Lc4 d6 5.d3 Lg4 6.h3 …
Träumt schon vom Legal-Motiv …
6…. Lh5(??)
… kann es tatsächlich möglich
sein?!
7.Sxe5! …
Jetzt muss der Schwarze einfach
bloß zu gierig sein …
7…. Lxd1??
Er ist es. Den Bauernverlust
nach 7….Sxe5 8.Dxh5 Sxc4 9.dxc4 … hätte der Nachziehende wohl verkraften können.
8.Lxf7+ Ke7 9.Sd5# 1:0
Und da haben wir die Nr. 2: ein
Viertel Jahrtausend nach Legal – ein Matt des Legal. Erst als Impression im
Xiangqi, jetzt als Original im internationalen Schach.
Chess: sei es das Schach courtesy of FIDE, sei es
das Schach der Chinesen – it is one big world.
Dr. René Gralla; Fotos: Christoph Harder