Das II. Internationale Schachmeisterturnier Wien 1882
Von Johannes Fischer
Als
sich Wilhelm Steinitz und George Henry Mackenzie am 12. Mai 1882 in der dritten
Runde des II. Internationalen Schachmeisterturniers in Wien nach 36. Zügen Remis
trennten, ging die längste Siegesserie der Schachgeschichte zu Ende. Seit 25
Partien hatte Steinitz einen Sieg nach dem anderen errungen – seinen letzten
halben Punkt hatte er neun Jahre zuvor abgegeben, am 2. August 1873 gegen
Philipp Meitner beim Turnier in Wien, das Steinitz nach einem Stichkampf gegen
Blackburne gewann.
Aber nach diesem Erfolg zog
sich Steinitz vom aktiven Schach zurück. 1876 spielte er noch einen Wettkampf
gegen Blackburne, den er mit 7-0 gewann, danach konzentrierte er sich auf seine
Arbeit als Schachjournalist. Doch da Steinitz' Ruf als bester Spieler der Welt
durch die lange Pause in Gefahr geraten war, entschloss er sich 1882 in die
Turnierarena zurückzukehren und am II. Internationalen Schachmeisterturnier in
Wien teilzunehmen, damals das stärkste Schachturnier aller Zeiten. Es wurde aus
Anlass des 25-jährigen Bestehens der Wiener Schachgesellschaft ausgetragen und
von Ignaz von Kolisch, einem starken Schachspieler, der als Bankier zu Geld
gekommen war und Baron Albert Rothschild, dem reichsten Mann der Donaumonarchie,
als Sponsoren unterstützt. Schirmherr der Veranstaltung war Kaiser Franz-Josef,
der zudem einen Spezialpreis stiftete.
Dieses
Turnier unterstrich die Bedeutung, die das Schach damals in Wien hatte. So
schreibt Michael Ehn in Luftmenschen: Die Schachspieler von Wien: "Mit
der Gründung der 'Wiener Schachgesellschaft' [im Oktober 1857] hatte sich das
Schachspiel endgültig Zutritt zur 'besseren' Gesellschaft Wiens verschafft.
Vorstandsmitglieder aus dem Adel, dem gehobenen Bürgertum und der Hochbürokratie
vermitteltem dem Club eine Exklusivität, die durch restriktive Statuten und hohe
Mitgliedsbeiträge ... abgesichert wurde. ... 1872 übernahm Baron Albert
Rothschild ... die Präsidentschaft und Schirmherrschaft über die
Schachgesellschaft, die sich in der Folge jenseits des Spielbetriebes zu einem
intellektuellen Brennpunkt der Stadt entwickelte: Ein exklusiver Klub von rund
200 Personen nach englischem Vorbild, dessen Anlaß, aber nicht mehr
ausschließlicher Inhalt das Schachspiel war; geeignet für politische Gespräche
ebenso wie für die Vorbereitung von Geschäften." (Luftmenschen, S.27-28)
Dem Prestige der Wiener
Schachgesellschaft entsprechend war Wien 1882 ein doppelrundiges Mammutturnier
mit 18 Teilnehmern, das am 10. Mai begann und am 24. Juni endete. Der Modus war
hart: "Vom Beginne des Turniers bis zum Schluss desselben muss jeder Theilnehmer
mit seinem ihm durch das Los bestimmten Gegner täglich, mit Ausnahme der Sonn-
und Feiertage, eine Partie spielen. Die Partien beginnen um 10 Uhr Vormittags
und werden bis 2 Uhr fortgesetzt. Um diese Stunde kann jeder der Spieler eine
Maximal-Unterbrechung von zwei Stunden verlangen. Spätestens um 4 Uhr muss die
Partie wieder aufgenommen und ohne Unterbrechung zu Ende geführt werden. Sollte
jedoch die Partie bis Mitternacht nicht beendet sein, so steht es jedem der
Spieler frei, die Vertagung zu verlangen, und bestimmt das Comité den Zeitpunkt
der Fortführung. Die Bedenkzeit ist auf 15 Züge per Stunde festgesetzt. Früher
ersparte Zeit kommt dem Spieler später zugute. ... Bei einer Unterbrechung [ist]
... das Consultiren, sowie auch das Analysiren am Brette in der Zwischenzeit
strengstens untersagt und hat den Ausschluss aus dem Turnier zur Folge."
Und die Turnierregeln
verlangten Einsatz von den Spielern: "Jeder Theilnehmer hat sämmtliche Partien
mit Aufbietung aller seiner Kraft zu spielen. Alle Privatabmachungen, durch
welche das Endresultat des Wettkampfes geändert werden kann, sind untersagt und
haben den Ausschluss aus dem Turnier zur Folge" (Aus dem Original-Bericht der
Österreichischen Lesehalle, Jänner 1882, zit. im Turnierbuch Das II.
Internationale Schachmeisterturnier Wien 1882, S.11-13). Die Teilnehmer
enttäuschten diese Erwartungen nicht: Die Remisquote war mit 30% gering und die
Partien dauerten im Schnitt 39 Züge, Remispartien sogar 46 Züge.
Teilnehmer
Das Teilnehmerfeld setzte sich
aus internationalen Spitzenspielern und den besten Spielern Österreich-Ungarns
zusammen. Hier eine alphabetische Liste der Teilnehmer mit kurzen biographischen
Hinweisen, die auf dem Oxford Companion to Chess von David Hooper und
Kenneth Whyld basieren.
Henry Bird,
(1830-1908). Buchhalter, einer der stärksten Spieler Englands und Zeit seines
Lebens Dauergast in den Londoner Schachcafés.
Joseph Henry
Blackburne, (1841-1924). Spitzname: The Black Death.
Legendär wegen seines Whiskykonsums und seiner Angriffspartien. Nach seinem Sieg
in der britischen Meisterschaft 1868-69 wurde er Profi und verdiente sein Geld
mit Simultantourneen in England. Hervorragender Problemkomponist und
Problemlöser.
Berthold Englisch,
(1851-1897). Österreichischer Meister, damals einer der besten Spieler der Welt.
Bernhard Fleissig,
(1853-1931). Österreichischer Meister.
Vincenz Hruby,
(1856-1917). Tschechischer Schachspieler, der als Lehrer in Triest arbeitete und
in den 1882 und 1891 in Wettkämpfen gute Resultate gegen führende Spieler
Österreichs erzielte.
George Henry MacKenzie,
(1837-1891). In Schottland geboren diente MacKenzie als Soldat in Irland und
Indien und kämpfte im Amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Nordstaaten.
Nach dem Ende seiner Karriere als Soldat widmete er sich intensiv dem Schach und
avancierte rasch zu einem der besten Spieler der USA.
James Mason,
(1849-1905). In Irland geborener und in die USA ausgewanderter brillanter
Schachjournalist und hochbegabter Spieler, der in den 1880er Jahren zu den
besten der Welt gehörte. Sein übergroßer Alkoholkonsum verhinderte jedoch, dass
er ganz an die Spitze kam.
Philipp Meitner,
(1836-1910). Ein in Wien lebender, starker Amateur und Studienfreund von
Steinitz.
Josef Noa,
(1856-1903). Ungarischer Meister.
Louis
Paulsen, (1833-1891). Bedeutender Theoretiker und
ausgezeichneter Blindspieler. 1833 in Deutschland geboren wanderte er 1854 in
die USA aus, um das Tabakunternehmen seines Bruders zu unterstützen und wurde
dort zu einem der besten Spieler des Landes. (Foto, rechts)
Adolf Schwarz,
(1836-1910). Starker ungarischer Schachamateur, der sich 1872 in Wien
niedergelassen hatte.
William Steinitz,
(1836-1900). In Prag geboren, lebte Steinitz eine Zeit lang in Wien, bis er als
Schachprofi und Schachjournalist erst nach England und dann in die USA zog.
Erster offizieller Weltmeister, Begründer der wissenschaftlichen Lehre des
Positionsspiels.
Mikhail
Chigorin, (1850-1908). Der russische Spitzenspieler
stand 1882 am Beginn seiner internationalen Laufbahn. In Berlin 1881 hatte er
sein erstes internationales Turnier gespielt und 1883 gehörte er bereits zu den
besten Spielern der Welt. (Foto, links)
Preston Ware,
(1821-1890). Ein amerikanischer Spieler, der vor allem durch originelle
Eröffnungsbehandlung für Aufsehen sorgte. So beginnt eine nach ihm benannte
Variante mit den Zügen 1.a4 e5 2.a5 d5 3.e3 f5 4.a6.
Miksa Weiss,
(1857-1927). In Ungarn geboren, gehörte Weiss zwischen 1880 und 1890 zu den
stärksten Spielern der Welt. Dann entschloss er sich, das Schachspiel
einzuschränken, um seine erfolgreiche Karriere als Bankier im Hause Rothschild
fortzusetzen.
Szymon
Winawer, (1838-1920). Polnischer Geschäftsmann, der
von Ende der 1860er bis Anfang der 1880er zu den besten Spielern der Welt
gehörte.
Alexander Wittek,
(1852-1894). Ein Wiener Architekt, der von 1880 bis 1882 einige gute
Turnierergebnisse erzielte, sich dann jedoch auf seinen Beruf als Architekt
konzentrierte.
Johann Hermann
Zukertort, (1842-1888). Einer der brillantesten
Spieler der Schachgeschichte, glänzte Zukertort auch im Blindspiel und als
Journalist. Ende der 60er Jahre gab er zusammen mit Anderssen die Neue
Berliner Schachzeitung heraus, später war er zusammen mit Leopold Hoffer
Herausgeber des englischen Schachmagazins Chess Monthly.
Turnierverlauf
Turnierfavorit war natürlich
Steinitz. Aber durch seine lange Pause vom Turnierschach, wusste man nicht, ob
er immer noch so stark spielen würde wie zehn Jahre zuvor. Tatsächlich war er
etwas eingerostet. Zwar gewann er die ersten beiden Partien, aber dann verlor er
nach dem erwähnten Remis gegen MacKenzie drei Partien hintereinander – gegen
Zukertort, Hruby und Ware, um dann nach einem Sieg gegen Fleissig in Runde 7
gleich noch einmal gegen Wittek in Runde 8 zu verlieren. Besonders bitter war
die Niederlage gegen Zukertort, damals der größte Rivale von Steinitz auf den
Titel der Nummer Eins im Schach. Aber in Runde 9 fand Steinitz seinen Rhythmus
wieder und nach dem ersten Durchgang lag er mit 11,5 Punkten einen Punkt hinter
Spitzenreiter Mackenzie (12,5 Punkte) und einen halben Punkt hinter Winawer, der
mit 12 Punkten den zweiten Platz belegte. Blackburne und Mason wiesen je 10
Punkte auf, gefolgt von Englisch, Hruby und Zukertort mit je 9,5 Punkten.
Diese Platzierung war vor allem
für Zukertort enttäuschend, der in Wien zeigen wollte, dass er Steinitz
überlegen war. Aber genau wie Mason konnte er sich in der zweiten Turnierhälfte
steigern und fünf Runden vor Ende des Turniers ergab sich an der Spitze
folgendes Bild: Mason führte mit 20,5 vor Steinitz mit 20, Winawer und MacKenzie
mit je 19,5 und Zukertort mit 19. Blackburne auf Rang sechs lag mit 17 Punkten
zwei Punkte hinter den Führenden und war praktisch aus dem Rennen.
Das leichteste Restprogramm und
den stärksten Schlussspurt hatte dann Winawer. Er holte 4,5 Punkte aus den
letzten fünf Partien, eine davon kampflos gegen Fleissig, der sich nach der 21.
Runde verabschiedet hatte, vier Runden nach Noa, der nach dem ersten Durchgang
kapituliert hatte. Steinitz erzielte immerhin 4 Punkte aus den letzten fünf
Runden, während Mason und MacKenzie beide einbrachen. Mason holte aus den
letzten fünf Runden nur 50%, darunter ein kampfloser Sieg gegen Noa. MacKenzie
schaffte drei Punkte, darunter ebenfalls einen kampflosen Sieg.
Die Schlussrunde ließ an
Dramatik nichts zu wünschen übrig. Steinitz lag mit 23 Punkten auf Platz 1,
Winawer hatte 22,5 Punkte, aber noch eine Hängepartie aus Runde 32 gegen Weiss,
in der er besser stand, nachdem er ein klar verlorenes Endspiel noch herumreißen
konnte. In der letzten Runde musste Steinitz gegen Bird und Winawer gegen
Englisch spielen. Bird hatte zwar die letzten vier Runden kampflos verloren
gegeben, da er unter starker Gicht litt, aber gegen Steinitz raffte er sich noch
einmal auf. Steinitz protestierte gegen dieses Vorgehen beim Schiedsgericht,
musste am Ende aber doch spielen. Während Winawer recht leicht gegen Englisch
gewann, hatte Steinitz Mühe, seine überlegene Stellung gegen Bird sicher nach
Hause zu bringen. Tatsächlich konnte sich der rekonvaleszente Engländer mit
einer taktischen Ressource noch kurz vor Schluss ins Remis retten – was Steinitz
den zweiten Platz beschert hätte. Aber nachdem Bird an dieser Möglichkeit
vorbeiging, hing alles an der Hängepartie zwischen Winawer und Weiss, die erst
nach der 34. Runde zu Ende gespielt wurde. Nach 142 Zügen war Steinitz erlöst:
Remis und damit geteilter erster Platz für Steinitz und Winawer, beide mit 24
Punkten aus 34 Partien. Dritter wurde Mason mit 23 Punkten. MacKenzie und
Zukertort teilten Plätze vier und fünf und erzielten jeweils 22,5 Punkte. Den
Sonderpreis für das beste Ergebnis gegen die drei Ersten ging an Zukertort.
Winawer verdankte seinen
geteilten ersten Platz vor allem seiner Fähigkeit, gegen die schwächeren
Teilnehmer zu punkten. Während er gegen die Spieler auf den Plätzen 1 bis 9 nur
7,5 Punkte aus 16 Partien holte, erzielte er gegen die Spieler auf den Plätzen
10 bis 18 16,5 Punkte aus 18. Wie scharf und zweischneidig er spielte, belegt
auch seine geringe Remisquote: Nur vier seiner Partien endeten Unentschieden und
oft konnte er sich mit viel Einfallsreichtum noch aus gefährdeter Stellung
retten, z.B. in den Partien Hruby – Winawer (Rd. 4) und Weiss – Winawer (Rd.
13), in denen er gleich nach der Eröffnung bedenklich stand und am Ende doch
noch gewann.
MacKenzie wurde seine
Schwarzschwäche zum Verhängnis. Während er mit Weiß 13 Partien gewann, vier
remisierte und keine verlor, gewann er mit Schwarz fünf (eine davon kampflos),
machte fünf Remis und verlor nicht weniger als sieben. Auch Steinitz konnte mit
den schwarzen Steinen nicht überzeugen. Mit Weiß gewann er 14 Partien,
remisierte zwei und verlor nur eine, aber mit Schwarz gewann er nur sechs (zwei
davon kampflos), remisierte sechs und verlor fünf.
Der geteilte erste Platz
zwischen Steinitz und Winawer führte zu einem Stichkampf um den Turniersieg und
den ersten Preis. Er wurde auf zwei Partien ausgetragen. Sollte auch der
Stichkampf unentschieden enden, würde der Preis geteilt werden. Steinitz spielte
in der ersten Partie auf Biegen oder Brechen auf Gewinn und brach nach dubioser
Eröffnung unter Materialopfern einen spekulativen Angriff vom Zaun. Aber Winawer
gelang es den Angriff abzuschlagen und die Partie zu gewinnen.
In der zweiten Partie lenkte
Steinitz das Spiel in ruhigere Bahnen. Er akzeptierte eine gedrückte Stellung,
um sich langfristige positionelle Vorteile zu sichern. Schließlich erreichte er
ein vorteilhaftes Endspiel, das Winawer nach ein paar ungenauen Zügen verlor.
Damit beendeten Steinitz und Winawer das Wiener Turnier 1882 als geteilte
Sieger. Für Winawer war dies der größte Erfolg seiner Laufbahn, doch nur ein
Jahr später zog er sich vom Turnierschach zurück.
Steinitz hingegen hatte seinen
Ruf als bester Spieler der Welt gefestigt – wenngleich er auch nicht mehr so
unangefochten wie zuvor an der Spitze lag. Aber das Turnier in Wien 1882
markierte noch aus einem anderen Grunde einen wichtigen Einschnitt in Steinitz'
Laufbahn. Während er in Wien spielte und einmal pro Woche Turnierberichte an
The Field schickte, der Zeitschrift, der Steinitz seit 1873 mit
seinen Kolumnen zu neuem Ansehen in der Schachgemeinde verholfen hatte,
intrigierte man dort in seiner Abwesenheit gegen ihn. Das gipfelte nach Ende des
Wiener Turniers in einem gehässigen Artikel, in dem das Spiel der englischen und
englisch-stämmigen Teilnehmer in Wien gelobt, der Turniersieg von Steinitz und
Winawer jedoch mit fremdenfeindlichen Einschlag herabgesetzt wurde. Steinitz
stellte seine Arbeit für The Field ein, sein Nachfolger wurde Leopold
Hoffer, ein Vertrauter Zukertorts und ein Intimfeind von Steinitz. Damit hielt
Steinitz kaum noch etwas in England, dem Land, in dem er sich "20 Jahre lang
fremd gefühlt hatte". Anfang 1883 immigrierte er in die USA und verlieh dem
Schachleben dort neue Impulse.
Wien 1882: Auswahl zum Nachspielen...
Tabelle...
Quellen:
Christiaan M. Bijl, (Hrsg.),
Das II. Internationale Schachmeisterturnier Wien 1882, Zürich: Edition Olms,
1984.
Michael Ehn, Luftmenschen: Die Schachspieler von Wien, Wien: Sonderzahl
1998.
Thorsten Heedt, William Steinitz: Der erste Schachweltmeister, ChessBase
Monographie, 2003.
David Hooper & Kenneth Whyld, The Oxford Companion to Chess, Oxford, New
York, Oxford University Press, 1996.
Kurt Landsberger, William Steinitz, Chess Champion, McFarland 1993.