Neues über Bobby

von ChessBase
03.07.2011 – Bobby Fischer weckte Bewunderung und Abscheu, er hat verärgert, polarisiert, zahllose Menschen zum Schach gebracht und den Autor Arthur Koestler zu einer Wortschöpfung veranlasst: "Mimophant", jemand, der wie eine Mimose reagiert, wenn er sich angegriffen fühlt, aber wie ein Elephant über die Gefühle und Befindlichkeiten anderer hinweg walzt. Offensichtlich haben so extreme Charakter ihren Reiz, denn drei Jahre nach seinem Tod und 39 Jahre nach seinem Sieg gegen Spassky in Reykjavik beschäftigt Fischer die Welt immer noch. Vor kurzem veröffentlichte der renommierte Biograph Frank Brady ein Buch über Fischers Leben, demnächst kommt ein Dokumentarfilm über Fischer ins Kino und immer mal wieder widmet sich jemand Fischers Psyche. In einer ausführlichen Rezension fasst Peter Münder zusammen, was es Neues über Fischer gibt. Zur Rezension...

ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024 ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024

ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan

Mehr...


DER EGOMANISCHE, ENIGMATISCHE MIMOPHANT
Eine neue Biographie, eine merkwürdige psychologische Studie und nun auch noch ein Film: das Rätselraten über Bobby Fischer (1943-2008) und seine unberechenbaren Eskapaden geht weiter


Von Peter Münder

Im chaotischen Kleinkrieg hinter den Kulissen der Schach-WM in Reykjavik 1972, als Bobby Fischer die Entfernung von TV-Kameras, andere Sessel und Lampen, mehr Geld sowie ein Verbot des Bonbonverzehrs wegen unerträglicher Knistergeräusche verlangte und mit einem Turnier-Abbruch drohte, prägte der Bestseller-Autor Arthur Koestler ("Sonnenfinsternis") - als irritierter Beobachter und Reporter damals vor Ort - den wunderbaren Terminus "Mimophant": Das war eine mimosenhafte Kreatur, die gereizt und überempfindlich auf alles reagierte, was sie selbst betraf, aber gedankenlos und unsensibel mit einer geradezu elefantösen Rücksichtslosigkeit die persönlichen Belange und Empfindlichkeiten anderer niedertrampelte - womit er natürlich Bobby Fischer meinte.

Der sensible, kultivierte Boris Spasski war dieser brachialen Powerplay-Mentalität Fischers ("Ich bin immer im Krieg") nicht gewachsen - jedenfalls war offensichtlich, dass er mit seiner Nachgiebigkeit gegenüber Fischers zahlreichen Änderungswünschen auch aus dem mentalen Gleichgewicht geraten war. Vor allem nach dem Umzug aus der großen Laugardalshöll-Kongreßhalle in das kleine Hinterzimmer, das eigentlich nur als improvisierter Pausenraum und zum Relaxen an der Tischtennisplatte vorgesehen war, begann der Abstieg des Russen. Der amerikanische Mimophant, der vor der WM noch nie gegen Spasski gewonnen hatte, irritierte ihn ja schon vor Beginn der WM mit immer neuen Forderungen und Bedingungen, hinzu kam noch der Druck vom russischen Schachverband und den krypto-stalinistischen Funktionären, die den armen Spasski schon früh aufgefordert hatten, sofort nach Moskau zurückzukehren, um gegenüber dem unverschämten Yankee das Gesicht zu wahren - was Spasski ja abgelehnt hatte. Boris Spasski fand Bobby trotz all ihrer Querelen und Dispute sogar sympathisch: " Er ist ein seltsames Geschöpf im Alltagsleben dieses Jahrhunderts- ich mag ihn aber und ich glaube, ich verstehe ihn auch".



Diese Details erwähnt Frank Brady in seiner faszinierenden Bobby-Biografie, die er trotz einer immer noch spürbaren Sympathie für das im Januar 2008 in Island verstorbene Schachgenie aus einer souverän-distanzierten, objektiven Perspektive geschrieben hat. Dabei blendet Brady keineswegs aus, wie angewidert und irritiert er Fischers hämische Haßtiraden gegen die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September und dessen antisemitische Hetzkampagnen- die ja bis zum Leugnen des Holocaust reichten- zur Kenntnis nahm. In "Endgame" wird der Leser nicht aus dritter Hand mit obskuren Anekdoten und Gerüchten traktiert, sondern zum größten Teil mit Eindrücken und Erfahrungen konfrontiert, die der Schachexperte und ehemalige Fischer-Freund Brady selbst gemacht hat: Brady hat als Turnierleiter und Schiedsrichter schon den jungen Bobby im Turniersaal erlebt und hunderte von Partien gegen ihn gespielt. Er hockte mit Fischer zusammen in einem kleinen Kabuff des Marshall Chess Clubs am Telex, als Bobby die Einreise nach Kuba von den US-Behörden verwehrt wurde und er alle Partien gegen die in Havanna spielenden Teilnehmer des Capablanca-Gedächtnisturniers über das Telexgerät mit anschließender Telefonanalyse abwickelte- ein zermürbender, extrem anstrengender Stresstest.


Cover der Fischer-Biographie von Frank Brady

Und Brady war während der WM 1972 in Reykjavik als Reporter vor Ort, hatte Kontakte zu Bobby und sogar zu Spasski selbst, während alle anderen Russen ihm mißtrauisch aus dem Weg gingen und kein einziges Wort mit ihm wechselten. Er erlebte auch, wie Bobbys Mutter heimlich und unerkannt in Reykjavik erschien, um ihren Wonder-Boy zum Durchhalten zu motivieren- sie trug damals eine blonde Perücke, was ihren Inkognito-Auftritt überhaupt erst ermöglichte. Frank Brady, 77, ist Präsident des Marshall Chess Clubs, war Gründer von Chess Life und ist Autor großer Biografien über Orson Welles, Onassis und Barbara Streisand; er ist Medien-Professor an der New Yorker St. Johns University und hatte bereits 1973 eine Kurzbiografie über den jungen Bobby verfaßt ("Bobby: Profile of a Prodigy"). Da Brady sich meistens dezent im Hintergrund hält und eine penetrante "Ich-und-Bobby-Pose" vermeidet, wirkt er besonders überzeugend.


Frank Brady bei Recherchen in Island

Außerdem kann er viele Situationen so lebendig und detailliert beschreiben, dass wir direkt neben Fischer zu stehen scheinen und ihm sozusagen über die Schulter blicken. Ob es um Interna und Querelen aus dem Turnierbetrieb geht, um bisher unbekannte Marotten des Mimophanten, um seine Angst vor KGB-Attentaten, seine Heiratsannoncen und seinen Wahn, unbedingt einen Sohn als genialen Nachfolger zu zeugen- Brady erläutert diese Details immer im Kontext der Ereignisse, die Bobby gerade heimgesucht haben und ihn darin bestätigten, an irgendeine jüdische, russische oder amtliche US- Verschwörung zu glauben. So kann man viele Aktionen des unsensiblen Mimophanten nachvollziehen, ohne sie aber richtig begreifen oder akzeptieren zu können. Seinen abgelaufenen Paß hatte Fischer ja xxx in der Schweizer US-Botschaft in 40 Minuten problemlos erneuern können, obwohl damals schon nach dem Rematch gegen Spasski in Sveti Stefan und der Mißachtung des Boykotts ein amerikanischer Haftbefehl gegen ihn existierte. Als er jedoch seine Haßtiraden gegen Amerika, sein Jubelgeschrei angesichts der Terrorattacken vom 11. September ("wunderbare Nachrichten! Die USA müssen ausradiert werden"!) produzierte, war offensichtlich, dass die US-Regierung den militanten Regierungsgegner und Sympathisanten islamistischer Terrorgruppen nicht länger mit Samthandschuhen anfassen wollte. Daher dann die Direktive an die Japaner, ihn auf dem Tokioter Flughafen festzunehmen.


Fischer wird am Flughafen in Tokio verhaftet.

Das Bild des kauzigen Außenseiters, der eigentlich nur spielen wollte, verändert sich also: Bobby Fischer trampelte auf den Gefühlen vieler Freunde und Sympathisanten herum, er verbreitete seine idiotischen, unsäglichen Holocaust-Thesen im Kreise jüdischer Freunde und wunderte sich dann, als er von der sonst so gastfreundlichen Familie Polgar, die viele Angehörige in Nazi-KZs verloren hatten, rausgeworfen wurde.


Fischer spielt gegen eine junge Susan Polgar Chess960

Mit einer unsäglichen Unsensibilität ließ er meistens nur seine eigene Meinung gelten und verdammte abweichende Ansichten in Grund und Bogen: Als Sofia Polgar in Budapest an einem von der US-Botschaft gesponserten Simultanturnier teilnahm, hatte er sie wutschnaubend angepöbelt und wollte ihr das verbieten, was dann auch das Ende ihrer Beziehung bedeutete. Brady beschreibt den Spagat zwischen Größenwahn und Depression, zwischen Genie und Illusion sehr einfühlsam und einer analytischen Schärfe, die "Endgame" zum spannenden Krimi werden läßt. Einziger Schwachpunkt des Buches sind fehlende Zeittafeln und Turnierlisten mit Wettkampfergebnissen, während Namensregister sowie ausführlichen Literaturangaben dagegen vorbildlich sind.

Brady hat keinen hermeneutischen Tunnelblick: Er will keine der gängigen einseitig idealisierenden Thesen über Fischers einmalige Genialität oder die aufs Pathologische fixierten Befunde über seine vermeintliche paranoide Schizophrenie beweisen, sondern nur möglichst genau die Stationen beschreiben, die als wichtige Phasen in Fischers Biographie von prägender Bedeutung waren. Brady kannte die ärmlichen Verhältnisse der Familie Fischer selbst aus erster Hand und geht auf diese profanen materiellen Bedingungen ein, weil die später so ausgeprägte Geldgier des Schachgenies auf seine frühen entbehrungsreichen Jahre zurückzuführen war.

Regina Fischer mußte als alleinerziehende Mutter von Bobby und der sechs Jahre älteren Schwester Joan jeden Cent dreimal umdrehen und konnte ein Bus- Ticket für eine Fahrt zu einem Schachturnier nur mit Unterstützung des Marshall-Schachclubs finanzieren.


Regina Fischer

Für Brady ist Fischer jedenfalls kein Psychopath, auch wenn er kritisch- entsetzt einige ins Asoziale driftende Verhaltensmuster beschreibt und der Untertitel "bis zum Rand des Wahnsinns" suggeriert, hier werde wieder einmal das elaborierte Psychogramm eines Verhaltensgestörten aus diversen Puzzleteilchen zusammengesetzt.

Als Weltmeister konterte Fischer ja Karpows Herausforderung zum Titelkampf mit eigenen rigorosen FIDE-Reformvorschlägen und Forderungen nach Einführung neuer Turnierregeln, womit er sich selbst Patt setzte und den längst beabsichtigten Verzicht auf eine Revanche begründen konnte . Er lehnte sogar einen exotischen Millionendeal (fünf Millionen Dollar für ein Match in Manila) , diverse Sponsoren-und Werbe- Angebote ab und spendete Tausende von Dollars seiner schrillen christlichen "Worldwide Church"- Sekte in Pasadena - dann war er jedoch pleite und lebte jahrelang in jämmerlichen Verhältnissen von der Stütze seiner Mutter. In dieser "Down and Out-Phase" erwies sich die 17jährige vielversprechende ungarische Schachspielerin Zita Rajcsanyi als rettende Samariterin: Zuerst schrieb sie Bobby nur Briefe, um zu eruieren, weshalb der brillante Weltmeister einfach untergetaucht war. Dann konnte sie über ihre Kontakte zur ungarisch-jugoslawischen Schachszene das Rematch mit Spasski im jugoslawischen Sveti Stefan einfädeln, das Bobby plötzlich wieder als Märchenprinz (mit vier Bodyguards) und als Multi-Millionär auferstehen ließ. Doch schließlich mußte sich Fischer wie ein Schwerverbrecher auf der Flucht möglichst unauffällig bewegen, weil er wegen der Boykottverletzung auf den Fahndungslisten der US-Regierung gelandet war.


Spassky gegen Fischer 1992

Besonders eindringlich beschreibt Brady die letzte, ebenso irritierende wie aufwühlende Phase Fischers in Island: Wieder einmal beschimpft und verflucht Bobby gerade diejenigen, die sich besondere Mühe gegeben hatten, um ihm zu helfen und ihm das Leben in Island zu erleichtern. Ein spezielles isländisches RJF-Komitee hatte ihn ja mit Hilfe eines Parlamentsbeschlusses aus dem japanischen Knast geholt und wollte ihm ein unbeschwerte Existenz in Freiheit, mit einem isländischen Paß ermöglichen.

Selbst Fischer-Experten der ersten Stunde dürften überrascht sein über einige faszinierende Exkurse in Bradys Biographie. Wer wußte schon, dass Bobby sich noch vor seinem WM-Revanche-Match gegen Spasski von 1992 fast ein ganzes Jahr inkognito in Deutschland aufgehalten hatte? Da besuchte er in Bamberg Lothar Schmid, den ehemaligen Schiedsrichter der WM in Reykjavik und hielt sich unter Schachfreunden in der Pulvermühle auf. Erst mit dem Auftauchen eines "Stern"-Reporters hatte diese erholsame und für Bobby sehr angenehme Phase ein abruptes Ende: Er ergriff sofort die Flucht. Und während dieser Zeit hatte er sich auf eine Affäre mit der Schachspielerin Petra Stadler eingelassen, deren Adresse er von Boris Spasski bekommen hatte. Doch Petra Stadler- sie heiratete 1992 den russischen GM Rustem Dautov- veröffentlichte über ihre Beziehung mit Bobby ein Buch mit dem reißerischen Titel "Bobby Fischer- Wie er wirklich ist. Ein Jahr mit dem Schachgenie"- was Fischer natürlich sehr empörte.

Der rabiate Ego-Cruncher hatte die Demütigung seiner Gegner immer genossen und konnte es nie akzeptieren, zurückgewiesen zu werden oder überhaupt irgendeinen Kompromiß einzugehen. Umso traumatischer war für ihn wohl die Ablehnung seines Heiratsantrags - ausgerechnet von der jungen Frau, die ihn aus seiner Misere erlöst und das Rematch mit Spasski 1992 eingefädelt hatte. Brady beschreibt diese merkwürdige Romanze mit Zita Rajcsanyi, die Bobby zuerst nur einen Fan-Brief schickte und fragte, warum es um ihn so still geworden war. Dann trafen sich die beiden, Fischer verbrachte viel Zeit mit ihr und sie konnte über ihre Kontakte den überraschenden Deal mit dem dubiosen jugoslawischen Wirtschaftskriminellen Jezdimir Vasilijevic (er wurde später inhaftiert) einfädeln, der für eine WM-Neuauflage fünf Millionen Dollar anbot. Fischers Heiratsantrag lehnte Zita aber kategorisch ab- seine antisemitischen Tiraden konnte sie ebensowenig akzeptieren wie seine egomanische Art: Bobby ignorierte einfach ihre eindeutigen Hinweise auf ihre feste Beziehung zu einem Freund, von dem sie sich keinesfalls trennen wollte. Außerdem ging er von ihrer totalen Unterordnung unter sein patriarchalisch-autoritäres Gehabe aus. Als es dann zum Bruch kam, hatte Fischer darunter wohl mehr zu leiden, als er sich anmerken ließ, deutet Brady an.

Zu den vielen Paradoxien im Leben Fischers gehört vor allem die, besonders auf seine Gesundheit geachtet zu haben und gerade dadurch einen selbstzerstörerischen Strudel ausgelöst zu haben, der ihn schließlich unheilbar krank werden ließ. Mit seiner eigenen Saftpresse in der Plastiktüte marschierte Fischer damals in Pasadena in vegetarische Restaurants, packte unter den erstaunten Blicken von Kellnern und Gästen seine Presse nebst mehreren Orangen aus und bereitete sich selbst seinen gesunden Saft zu, weil er befürchtete, Russen oder Juden könnten ihm irgendwelche gefährlichen Substanzen unterjubeln. Seine Zahnplomben hatte er sich entfernen lassen, weil er das Quecksilber der Plomben für ungesund hielt und außerdem Attacken russischer Geheimdienste befürchtete, die seiner Ansicht nach über Mikrowellensender in implantierten Plomben operierten. Da er keine Ersatzplomben einsetzen ließ, hatte sich Fischer so seine Zähne ruiniert. Weil er schließlich nach der Befreiung aus dem japanischen Knast als frischgebackener Isländer mit der verbiesterten Uneinsichtigkeit eines Zeugen Jehovas jede medizinische Behandlung und selbst die Einnahme von Tabletten rigoros ablehnte, richtete er sich selbst zugrunde.

Er hatte jahrelang unter urologischen Problemen, Atembeschwerden und einem gravierender Nierenschaden gelitten, was dann in Reykjavik schließlich diagnostiziert wurde- doch niemand durfte ihn behandeln. Eine Dialyse hätte dem "Mozart am Schachbrett" das Leben retten können, doch davon wollte Bobby Fischer nichts wissen: "Ich lasse keine Maschine an meinen Körper", betonte er immer wieder. Zweifellos hatte Fischer in diesen letzten Lebensjahren einen Hang zur Selbstzerstörung entwickelt- jedenfalls waren nicht nur die hilfsbereiten isländischen Freunde über sein plötzliches Ende im Januar 2008 konsterniert. Auch Boris Spasski, der Fischer kurz vor dessen Ende noch kontaktiert hatte, war bestürzt: "Ich habe ihn geliebt", erklärte der sympathische Russe, der ja längst beim Moskauer Bürokratenapparat in Ungnade gefallen war, nach Frankreich emigriert war und schwer getroffen auf Bobby Fischers Tod reagierte.


Fischers Grab (Foto: Hans van Brandwijk)

Kritiker, die monieren, manche Details wären vielleicht zu sehr auf eine Yellow-Press-Klientel zugeschnitten, sollten zur Kenntnis nehmen, dass Fischers Aufstieg und Fall abhängig war von seinen Erfolgserlebnissen und er mit seinem Rückzug aus den Turniersälen eben nur auf sich und seine introvertierte Nabelschau fixiert war. Wie der Dachs, der sich in Franz Kafkas Parabel "Der Bau" immer neue komplizierte Fluchtsysteme baut, merkt Fischer erst viel zu spät, dass es nicht seine Feinde sind, die ihn am stärksten bedrohen: Für den Dachs erweist sich das Pfeifen eines nahenden , bedrohlichen Außenseiters als sein eigenes Pfeifen. Und auf der Paranoia-Skala des Schachgenies muß man Bobby selbst wohl den höchsten Wert zubilligen- jedenfalls in seinen letzten Jahren.



Kann aus laienhafter Unwissenheit und naiver Unvoreingenommenheit ein Meisterwerk werden? Allerdings, wie Liz Garbus dies mit ihrem eindrucksvollen Dokumentarfilm über die vita des Schachgenies gezeigt hat. Sie hatte einfach zu wenig Vorinformationen über Bobby, die ihren analytischen Blick getrübt oder einseitig beeinflussen konnten. Die amerikanische Dokumentarfilmerin stellt im Juli ihren biografischen Film über Bobby Fischer in London vor; sie las vor drei Jahren kurz nach seinem Tod zufällig im Flieger einen Nachruf auf Bobby und war total elektrisiert, als sie die wichtigsten Details über den Siegeszug des eigenwilligen Individualisten gegen die kollektive sowjetische Schachmaschine mitbekam: "Da stand für mich fest, ich mache meinen nächsten Fall unbedingt über diesen faszinierenden Außenseiter". Liz Garbus ist eine sozialkritische Dokumentarfilmerin und hat für ihren engagierten Film über Abu Graib einen Emmy Award bekommen. Ihr neuester Film heißt zwar "Bobby Fischer against the world", aber er stellt keineswegs nur Fischers provozierenden Verweigerungsstrategien oder andere negative Verhaltensmuster in den Mittelpunkt: "Er konnte ja auch sympathisch, humorvoll und solidarisch sein, wie mir mehrere ehemaligen Fischer-Weggefährten bestätigt haben", erklärte Garbus dem Kulturmagazin "Paste".

Für ihren Film konnte sie auf hunderte seltener Photos des WM-Photographen Harry Benson zurückgreifen, der das gesamte WM-Match als Photograph begleitet hatte und außerdem noch Dutzende komischer Episoden erlebt hatte. Den Wandel des wonderboys vom Weltmeister zum verachteten Anti-Amerikaner und Holocaust-Leugner will Garbus nicht auf den Aspekt "sympathisch" oder "nett" reduzieren: "Man muß schließlich Mitleid mit ihm haben, weil er nie irgendeine Form der Therapie bekam. Außerdem hat ihn sicher auch geprägt, dass die Beziehung zum Vater so problematisch war und lange ungeklärt war, wer überhaupt der richtige biologische Vater war". Auch den Aspekt einer selbstzerstörerischen Eigendynamik in Bobby Fischers letzten Jahren verfolgt sie in ihrem Film, der ab Mitte Juli in England in die Kinos kommt und am 5. Juli in einer Sondervorführung mit GM Nigel Short im Rahmen einer Simultanvorstellung gezeigt wird.

Trailer zu Bobby Fischer against the World...

"Ich glaube nicht an Psychologie, ich glaube nur an gute Züge", hatte Fischer ja einmal konstatiert. Über diese grotesk anmutende Behauptung kann man natürlich lange grübeln, vor allem, wenn selbsternannte Experten sich jetzt daran machen, eine Art finales Psychogramm des Ex-Weltmeisters zu liefern. Und das dann als "psychologische Autopsie" bezeichnen, wie es der amerikanische Psychologe Joseph G. Pontoretto im Wissenschaftsmagazin Miller-McCune (vom 14. Dez. 2010) macht. Pontoretto rechtfertigt sich damit, dass er diverse, bisher weniger bekannte Unterlagen einsehen (die 750 Seiten umfassenden FBI-Akten über Regina und Bobby Fischer) und Augenzeugenberichte zur Kenntnis nehmen und neue Aspekte analysieren konnte und so eine gewisse kritische Objektivität gewährleitet sei. Doch Pontoretto zitiert etwa aus einem Behördenbefund über Regina Fischer, der sich kritisch über diese "querulante" Mutter äußert, die sich vehement gegen den Rauswurf aus einem Heim für mittellose Mütter gewehrt hatte, um zu belegen, welch renitenter Geist in der Familie Fischer dominierte. Immerhin sieht er aber Bobbys depressive Phase Ende der 90er Jahre im Kontext familiärer Verluste: Regina Fischer war 1997 an Krebs gestorben, Bobbys Schwester Joan starb ein Jahr später an einem Gehirntumor- was Bobby Fischer zweifellos in eine starke depressive Phase versetzte.

Doch außer Spekulationen und dem Recyclen von altbekannten Binsenweisheiten ("er war ein sehr unabhängiger Geist, war exzentrisch und besaß keine konventionellen sozialen Fertigkeiten") kann Pontoretto nur mit dem Hinweis aufwarten, Fischers Antisemitismus sei vielleicht von der Vorherrschaft russisch-jüdischer Spieler im Großmeistersektor beeinflußt worden. So soll etwa Samuel Reshevsky zu Fischers Intimfeinden gehört haben. Und während des Interzonenturniers in Palma de Mallorca habe Bobby gegenüber Reshevsky einmal mit leuchtenden Augen von einem großartigen Buch geschwärmt, das er gerade lese. Als Reshevsky fragte: "Ja und welches Buch ist das?" habe Fischer geantwortet: "Mein Kampf!" Aus diesen bunt zusammengemixten Puzzleteilchen will der Psychologe sich eine halbwegs wissenschaftliche Autopsie basteln. Vielleicht hätte Pontoretto seine Kaffeesatzleserei lieber "posthume Kalenderweisheiten" nennen sollen.



Kaum jemand wurde wohl so wüst und gnadenlos von Bobby Fischer beschimpft wie Garry Kasparov, den Fischer nach seinen Kontroversen mit Karpov ja immer als Karpovs heimtückischen Gesinnungsgenossen und "crook" -also Gauner- bezeichnet hatte, als beide einer verwirrten Schachwelt ihren monatelangen Remis-Stellungskrieg vorführten. Kasparov hat sich im Frühjahr in einer Rezension über Bradys Fischer-Biographie geäußert und tat dies mit einer erstaunlichen Souveränität, hinter der großer Respekt und immer noch eine gewisse Sympathie für den tragischen US-Helden erkennbar ist.

Emotionslos und distanziert könne er unmöglich über Bobby Fischer schreiben, erklärt Garry Kasparow in seiner Kritik, die er für die " New York Review of Books" schrieb. Schließlich sei Bobby für ihn lange Zeit ein leuchtendes Vorbild gewesen: 1963, als Kasparow geboren wurde, hatte der 14jährige Fischer die US-Meisterschaft mit einem perfekten Score (elf Siege aus elf Partien) gewonnen und als der Amerikaner 1972 in Reykjavik die bis dahin für unbesiegbar geltende sowjetische Schachmaschine bezwang und das Duell gegen Spasski nach abenteuerlichen Krisensituationen und Disputen doch noch als neuer Weltmeister beendete, hatte der aufstrebende junge Clubspieler Kasparow begeistert alle WM-Partien nachgespielt. "Ich träumte davon, eines Tages gegen Fischer zu spielen", schreibt Kasparow, aber diese Herausforderung gab es nur in den Debatten der Schach-Experten und Journalisten- weil es ja zum Duell am Schachbrett nie kam. Und in diesem Kontext behandelt Kasparow auch Fischers Ausweichmanöver gegenüber Karpow und kommentiert die rigide Entscheidung des neuen Weltmeisters, alle Zugeständnisse der FIDE hinsichtlich neuer Regeln abzulehnen und gegen Karpow nicht anzutreten.

Kasparov lobt Brady für seine unparteiische Erzählperspektive, die eine Vorverurteilung des Amerikaners, wie sie jahrelang "von Millionen von Psycho-Amateuren" praktiziert wurde, von vornherein ausschloß und es auch vermied, sich auf Debatten über die Zurechnungsfähigkeit eines mental Gestörten einzulassen. Kasparov zitiert Voltaire und dessen Verdikt über "kalkulierte Verrücktheit", die zielgerichtet und daher auch erfolgreich sein könne. Er geht dann aber doch auf Fischers "stark ausgeprägte Paranoia" ein und meint, Bobby hätte dringend therapeutische Hilfe benötigt, denn nach seinem Rückzug vom Schach habe er den "dunklen Mächten" freien, unkontrollierten Lauf gelassen. "Es gibt keine Moral am Ende dieser tragischen Fabel", lautet Kasparovs Fazit: "Bobby Fischer war einzigartig, seine Schwächen waren so banal wie sein Schachspiel brillant war".

Das Enigma des egomanischen Mimophanten, dieser rätselhafte Aufstieg und Fall eines zum Heros stilisierten Kalten Kriegers, ist wohl nie plausibel zu dechiffrieren. Selbst wenn man in Betracht zieht, dass sich schon in den 1950er Jahren die Vorstandsmitglieder im Marshall Chess Club darüber den Kopf zerbrachen, ob man den Teenager Bobby Fischer wegen seiner disziplinlosen Ausraster rausschmeißen oder ihm einen Therapeuten besorgen sollte. Die Episode mit dem Therapeuten und Großmeister Reuben Fine, den Regina Fischer ja schon als pädagogischen Helfer in der Not kontaktiert hatte, zeigte auch, dass sich Bobby zwar gern zum Schachspiel mit Fine traf, sich jedoch überrumpelt fühlte, als Fine ihn nach seinen Schulleistungen befragte. Bobby Fischer wollte sich nicht helfen lassen; er fühlte sich permanent von der überprotektiven Mutter (später dann von staatlichen Behörden und Bürokraten) bevormundet und fand seinen inneren Frieden und seine eigentliche Bestimmung wohl nur am Schachbrett. Damals hatte der Club daher auch alle Sanktionen und Therapieversuche abgelehnt- wem wäre denn damit gedient, so lauteten damals die Argumente, aus diesem Genie eine angepaßte graue Maus zu formen?

Frank Brady: Endgame - Bobby Fischer´s Remarkable Rise and Fall - from America´s Brightest Prodigy to the Edge of Madness. Crown Publishers New York, 2011, 402 S., 25.99 Dollar
Joseph G. Ponteretto: "A psychological Autopsy of Bobby Fischer". Miller-McCune Mag., Dezember 2010
Garry Kasparov: "The Bobby Fischer Defense". In: The New York Review of Books, 10. März 2011
"Bobby Fischer Against the World". Dokumentarfilm von Liz Garbus, ab 15. Juli in engl. Kinos

Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

Diskutieren

Regeln für Leserkommentare

 
 

Noch kein Benutzer? Registrieren